Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes. grobe Fahrlässigkeit. Beginn der Jahresfrist. Kenntnis der Tatsachen

 

Orientierungssatz

1. Grobe Fahrlässigkeit iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 ist auch zu bejahen, wenn sich die Rechtswidrigkeit ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ergibt und es dem Leistungsempfänger anhand der Umstände und ganz naheliegender Überlegungen auffallen muß, daß der Bescheid fehlerhaft ist. Dies gilt auch dann, wenn der Fehler einer Leistungsbewilligung im Verantwortungsbereich des Leistungsträgers liegt.

2. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 beginnt nicht bereits dann, wenn der Behörde Tatsachen bekannt werden, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsaktes ergibt; vielmehr müssen auch die Tatsachen bekannt sein, die eine Rücknahme und zwar für die Vergangenheit rechtfertigen, so zB die Tatsachen, aus denen sich zB eine grobe Fahrlässigkeit oder ein Verschulden ergibt (vgl BSG vom 9.9.1986 - 11a RA 2/85 = BSGE 60, 239 = SozR 1300 § 45 Nr 26).

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten die teilweise Aufhebung und Erstattung von Arbeitslosengeld (Alg) für den Zeitraum vom 01. April bis 31. Dezember 1994 in Höhe von 2.973,60 DM.

Der ... 1936 geborene Kläger war von 1981 bis 01. Oktober 1990 selbständiger Keramiker und hat vom 01. März bis 30. Juni 1991 als Kraftfahrer gearbeitet. Nach zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit war er vom 07. Oktober bis 06. Dezember 1991 als Verkäufer beschäftigt, bezog ab 10. Dezember 1991 wieder -- unterbrochen von Krankengeldbezug -- Alg bis zum 01. März 1993 und war dann bis zum 31. März 1994 selbständig tätig (Kurierdienst). In diesen früheren Zeiträumen der Arbeitslosigkeit war auf der Lohnsteuerkarte des Klägers die Steuerklasse IV eingetragen, und ihm wurde jeweils Alg unter Berücksichtigung der Leistungsgruppe A bewilligt.

Nach Beendigung seiner letzten selbständigen Tätigkeit beantragte der Kläger am 31. März 1994 die Bewilligung von Alg. Im Rahmen der Beantragung gab der Kläger an, daß zu Beginn des Jahres 1994 auf seiner Lohnsteuerkarte die Steuerklasse V eingetragen worden sei und unterzeichnete die Erklärung, das Merkblatt für Arbeitslose "Ihre Rechte -- Ihre Pflichten" erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Seitens des "Antragsannehmers" des Arbeitsamtes R wurde zur eingetragenen Steuerklasse V vermerkt, daß die Lohnsteuerkarte für das Jahr 1994 vorgelegen habe.

Mit Bescheid vom 20. April 1994 bewilligte das Arbeitsamt R dem Kläger daraufhin Alg ab dem 01. April 1994 unter Berücksichtigung eines wöchentlichen Bruttoarbeitsentgeltes von 1.010,-- DM und der Leistungsgruppe A/Allgemeiner Leistungssatz in Höhe von 364,20 DM wöchentlich.

Nach im November 1994 erfolgter Beiziehung der Lohnsteuerkarten des Klägers der Jahre 1994/95 und mit Schreiben vom 02. Januar 1995 erfolgter Anhörung nahm das Arbeitsamt R mit Bescheid vom 09. Mai 1995 die Bewilligung von Alg für den Zeitraum vom 01. April bis 31. Dezember 1994 teilweise zurück und forderte die Erstattung von 2.973,60 DM, da ab 01. April 1994 bei der Berechnung des Alg die Steuerklasse IV statt V zugrunde gelegt worden sei.

Im hiergegen am 01. Juni 1995 eingelegten Widerspruch verwies der Kläger darauf, daß er nicht gewillt sei, die Verantwortung für einen Eingabefehler des Arbeitsamtes zu übernehmen. Er gehe als Bürger davon aus, daß er in die Tätigkeit der Mitarbeiter des Arbeitsamtes volles Vertrauen setzen könne und nicht jede Handlung in Zweifel ziehen müsse. Darüber hinaus sei er finanziell nicht in der Lage, einen solchen Betrag zurückzuzahlen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 05. September 1995 unter Bezugnahme auf § 45 Sozialgesetzbuch -- Verwaltungsverfahren (SGB X) als unbegründet zurück und führte im Rahmen der Begründung aus, die rechtswidrig begünstigende Bewilligung beruhe zwar auf fehlerhaftem Handeln des Arbeitsamtes und sei nicht durch den Kläger verursacht worden. Der Kläger habe diese Fehlerhaftigkeit jedoch erkennen können, da auf der Rückseite des Bewilligungsbescheides eine Zuordnung von Steuerklassen mit Leistungsgruppen abgedruckt sei. Daher sei dem Kläger ohne Ausführung von Rechenoperationen und ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ersichtlich gewesen, daß er Alg nach der Leistungsgruppe A erhielt, obwohl ihm dieses lediglich nach der Leistungsgruppe D zugestanden habe. Der Kläger könne sich daher nicht auf Vertrauensschutz berufen.

Gegen diese Entscheidung der Beklagten hat der Kläger am 13. September 1995 Klage erhoben. Im Rahmen der Begründung führte der Kläger u.a. aus, daß die Steuerklasse, die im Bewilligungsbescheid nur als Buchstabe aufgetaucht sei, bei ihm zum damaligen Zeitpunkt noch keine Beachtung gefunden habe. Im Übrigen habe er die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht erkennen können, da sich in den Phasen seiner Arbeitslosigkeit mehrmals Veränderungen in der Berechnung seiner Leist...

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