Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsarzt. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Verordnungsregress wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens. Vorgaben des § 84 Abs 6 S 2 SGB 5 setzen verbindliches Recht. Nichtanwendung der Vorschrift im Jahr 2003

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Vorgaben in § 84 Abs 6 S 2 SGB 5, wonach die Richtgrößen nach altersgemäß gegliederten Patientengruppen und darüber hinaus auch nach Krankheitsarten bestimmt werden sollen, setzen verbindliches Recht, von denen die Parteien der Richtgrößenvereinbarungen nur in atypischen Fällen abweichen dürfen.

2. Im Jahr 2003 musste diese Vorschrift noch nicht angewendet werden, weil § 296 Abs 3 SGB 5 in der seinerzeit geltenden Fassung eine Übermittlung solcherart gegliederter Verordnungsdaten noch nicht ermöglichte.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 22. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller haben auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die ihre Kosten selbst tragen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 9.756,34 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen einen Richtgrößenregress.

Die Antragsteller nahmen im Jahr 2003 als Mitglieder einer allgemeinmedizinischen Gemeinschaftspraxis mit Praxissitz in Q. an der vertragsärztlichen Versorgung teil.

Die Geschäftsstelle der Prüfungseinrichtungen für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung teilte ihnen mit Schreiben vom 4. Juni 2007 mit, dass sie im Jahr 2003 die - nach Mitgliedern/Familienangehörigen (M/F) und Rentnern (R) gegliederten - Richtgrößen für Arzneimittel mit 60,18 % um mehr als 25 % überschritten hätten und daher gemäß § 10 Abs 3 der Richtgrößenvereinbarung (RGV) von Amts wegen eine Richtgrößenprüfung einzuleiten sei. Der vorläufig errechnete Nettoregress belaufe sich auf 92.140,04 Euro.

In ihrer Stellungnahme vom 15. August 2007 wandten die Antragsteller ein, in dieser Summe sei eine Vielzahl patientenbezogener, medikament- und diagnosenbedingter sowie in Struktur und medizinischem Versorgungsaufwand begründeter Praxisbesonderheiten noch nicht berücksichtigt worden. Ihrem Schreiben fügten sie auf mehr als 400 Seiten Listen mit Patienten und Arzneimitteln bei, die verschiedenen Krankheitsbildern und Therapien zugeordnet waren.

Der Prüfungsausschuss Niedersachsen setzte mit Bescheid vom 13. November 2007 einen Regress in Höhe von 66.065,47 Euro fest, wobei er zugunsten der Antragsteller Praxisbesonderheiten in Höhe von insgesamt 98.913,57 Euro berücksichtigte.

Hiergegen legten die Antragsteller am 11. Dezember 2007 Widerspruch ein. Zur Begründung führten sie zunächst auf 14 Anlagen weitere Besonderheiten ihrer Praxis an (zB die Behandlung von Alten- und Pflegeheimpatienten, ua mit Sondennahrung) bzw verwiesen auf ihrer Ansicht nach unzutreffend berücksichtigte freiwillig versicherte Rentner. In der Sitzung vor dem Antragsgegner am 5. August 2010 legten sie auf ca 500 Seiten (ua) erneut Listen mit Patienten und Arzneimitteln zur Dokumentierung ihrer Praxisbesonderheiten vor, außerdem Listen von Verordnungen, die am Wochenende ausgestellt worden seien, Patienten, für die mehrere Versicherungsnummern angegeben worden seien und schließlich Internet- und Zeitschriftenauszüge zu Therapieempfehlungen.

Mit Bescheid vom 21. Oktober 2010 gab der Antragsgegner dem Widerspruch teilweise statt und reduzierte den Regress auf 39.025,34 Euro. Dabei brachte er zunächst 15.045,63 Euro der Verordnungssumme wegen fehlerhaften Datenbestands bzw "sonstiger Entlastungen" in Abzug (unrichtige Pharmazentralnummern ≪PZN≫, Behandlungen zu Lasten der gesetzlichen Unfallversicherung, Hilfsmittel; Einordnung von freiwillig versicherten Personen ab 65 Jahren in die Gruppe "R"). Die Anerkennung fehlerhafter Daten wurde dagegen abgelehnt in Hinblick auf fiktive Verordnungsdaten bzw Daten am Monatsanfang/Monatsende, Sonderkennzeichen-PZN und Versichertennummern, denen die Antragsteller keinen Versichertennamen hätten zuordnen können. Weiterhin erkannte der Antragsgegner Praxisbesonderheiten im Wert von insgesamt 115.763,69 Euro (darunter acht Versicherte mit besonders hohem Versorgungsbedarf) an. Im Hinblick auf die Versorgung von ca 150 Versicherten in einem Altenheim ging der Antragsgegner von einem Schwerpunkt in der Arbeit der Antragsteller aus und erkannte Arzneimittel als Praxisbesonderheiten an, die bei der Therapie dieser Patientenklientel typischerweise eingesetzt würden. Weitere von den Antragstellern vorgetragene Schwerpunkte, zB bei der Verordnung von Sondennahrung, hätten sich im Rahmen der vorgenommenen Auswertung der Verordnungsdaten nicht widergespiegelt. Einen Antrag, die sofortige Vollziehung des Bescheids wegen des Vorliegens einer unbilligen Härte für die Antragsteller anzuordnen, lehnte der Antragsgegner ab.

Gegen diesen Bescheid haben die Antragsteller am 19. November 2010 Klage vor dem Sozialge...

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