Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Krankenversicherung. vorläufige Leistungspflicht bei Leistungen außerhalb des Leistungskataloges. Immunglobulinpräparat Kiovig. keine Beschränkung auf einen kurz bevorstehenden Tod sondern auch bei nachhaltiger und gravierender Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit
Leitsatz (amtlich)
1. Es ist mit dem staatlichen Schutzauftrag für Leben und körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs 2 S 1 GG) nicht vereinbar, die Pflicht des Staates zur Bereitstellung von Leistungen außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung auf Situationen zu beschränken, in denen der Tod des Versicherten kurz bevorsteht, er sich also in einer notstandsähnlichen Situation befindet.
2. Eine Leistungspflicht besteht nach grundrechtsorientierter Auslegung vielmehr auch in den Fällen, in denen eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die ohne rechtzeitige Behandlung aller medizinischen Voraussicht nach die körperliche Unversehrtheit des Versicherten auf Dauer nachhaltig und gravierend beeinträchtigen würde.
Orientierungssatz
Eine an Multipler Sklerose mit sekundär chronisch progredientem Verlauf leidende Versicherte hat einen Anspruch auf vorläufige Versorgung mit dem Immunglobulinpräparat Kiovig iS der Rechtsprechung des BVerfG (vgl BVerfG vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5; Entgegen BSG vom 5.5.2009 - B 1 KR 15/08 R = SozR 4-2500 § 27 Nr 16 und vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R = BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4).
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 29. Dezember 2010 wird aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin ab März 2011 bis zum 31. März 2015 vorläufig das Präparat Kiovig entsprechend den jeweiligen vertragsärztlichen Verordnungen als Sachleistung zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I. Die im Jahre 1964 geborene Antragstellerin leidet an Multipler Sklerose mit schubförmigem Verlauf, die 1992 festgestellt wurde. Inzwischen wird eine Multiple Sklerose mit sekundär chronisch progredientem Verlauf diagnostiziert. Der damals behandelnde Arzt Prof. Dr. C. setzte zunächst das intravenöse Immunglobulin Octagam ein. Die Anwendung von Azathioprin erfolgte nicht. Die Behandlung wurde ab dem Jahr 2002 auf die Medikamente Rebif, Betaferon und Copaxone umgestellt. Das hatte zur Folge, dass die Antragstellerin an erheblichen Nebenwirkungen litt, u.a. an einem Fatigue-Syndrom, ständigem sehr starken Schwindel und Sprachstörungen. Sie erlitt häufige Schübe. Nachdem die Behandler eine Umstellung der Therapie auf Tysabri abgelehnt hatten, wurde die Behandlung mit intravenösen Immunglobulinen (Octagam) wieder aufgenommen mit vorzüglicher Wirkung für die Antragstellerin. Es stellte sich ein beruhigter Verlauf ohne Schübe dar.
Die Behandlungskosten wurden bis März 2002 von der Antragsgegnerin übernommen. Mit Bescheid vom 17. April 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2002 lehnte die Antragsgegnerin eine weitere Kostenübernahme ab. Daraufhin beantragte die Antragstellerin am 16. Oktober 2002 beim Sozialgericht (SG) Osnabrück den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Mit Beschluss vom 21. März 2003 verpflichtete das SG die Antragsgegnerin, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache die Kosten für das Präparat Octagam in dem Umfang zu übernehmen, in dem das Präparat vom behandelnden Arzt verschrieben werde.
Der gegen den vorgenannten Bescheid am 2. September 2002 erhobenen Klage gab das SG Osnabrück mit Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 2007 statt (AZ.: S 3 KR 179/02). Hiergegen legte die Antragsgegnerin Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen ein (AZ.: L 4 KR 379/07 - L 4 KR 67/08), über die noch nicht entschieden wurde.
Im Jahre 2010 wurde das Präparat Octagam von der Herstellerfirma komplett vom Markt genommen. Aufgrund dieses Umstandes stellte der behandelnde Facharzt für Neurologie und Spezielle neurologische Intensivmedizin Dr. D., Chefarzt der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses Ludmillenstift, die Therapie auf das Präparat Kiovig um. Nach seinen Angaben ist das Präparat Kiovig, ebenfalls ein Immunglobulinpräparat, mit Octagam austauschbar.
Am 17. September 2010 beantragte die Antragstellerin durch ihren behandelnden Arzt Dr. D. die Gewährung von Kiovig. Die Antragsgegnerin holte das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN), Dr. E., vom 30. September 2010 ein und zog das Gutachten des MDKN (Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin Dr. F. vom 18. März 2003) bei. Nachdem der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Sozialmedizin Dr. G. im Hauptsacheverfahren, AZ.: L 4 KR 67/08, das Gutachten vom 27. Januar 2010 erstattet hatte, holte die Antragsgegnerin das weitere Gutachten des Dr. E. vom 8. Oktober 2010 ein. Sodann lehnte sie mit Bescheid vom 11. Oktober 2010 eine Kostenübernahme für d...