Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. erhöhte Leistungen nach längerer Aufenthaltsdauer gem § 2 Abs 1 AsylbLG idF vom 30.7.2004 iVm Art 8 MRK. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Gewährung von Leistungen gem § 2 Abs 1 AsylbLG iVm Art 8 MRK nach 20jährigem geduldeten Aufenthalt in der Bundesrepublik ("faktischer Inländer").

2. Zu den Anforderungen an die hinreichende soziale Integration in die deutsche Gesellschaft und an die Bindungen zum Heimatland.

3. An die berufliche und wirtschaftliche Integration sind keine besonderen Anforderungen zu stellen, wenn die ledige Antragstellerin ihre beiden Kleinkinder betreut.

 

Orientierungssatz

1. Ein ausreisepflichtiger aber geduldeter Ausländer handelt rechtsmissbräuchlich, wenn er in Deutschland bleibt, obwohl ihm eine Ausreise tatsächlich und rechtlich möglich sowie zumutbar ist (vgl BSG vom 8.2.2007 - B 9b AY 1/06 R = SozR 4-3520 § 2 Nr 1).

2. Für die Beurteilung der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer kommt es darauf an, ob sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten konkret und kausal verlängernd auf die Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik Deutschland ausgewirkt hat bzw noch auswirkt, nicht jedoch, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten generell geeignet ist, die Dauer des Aufenthaltes zu beeinflussen (vgl LSG Celle-Bremen vom 20.12.2005 - L 7 AY 40/05). Das kausale, vorwerfbare Verhalten muss im streitgegenständlichen Zeitraum noch fortwirken (vgl LSG Celle-Bremen vom 11.7.2007 - L 11 AY 12/06 ER).

 

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Aurich vom 5. Januar 2007 wird aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 8. Dezember 2006 bis zur Erteilung des Widerspruchsbescheides vorläufig - und unter dem Vorbehalt der Rückforderung - Leistungen gemäß § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) unter Anrechnung bereits gemäß § 3 AsylbLG gezahlter Beträge zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. aus G. für das erstinstanzliche Verfahren und unter Beiordnung von Rechtsanwalt H. aus I. für das zweitinstanzliche Verfahren bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen gemäß § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Die Antragstellerin wurde am J. in K. (ehemaliges Jugoslawien) geboren. Sie hat die serbisch-montenigrinische Staatsangehörigkeit. Ihre Eltern reisten zusammen mit drei älteren Geschwistern zum ersten Mal im Jahre 1980 in die Bundesrepublik ein. Der im Jahre 1980 gestellte Asylantrag der Eltern blieb erfolglos. Das Asylverfahren wurde unter Berufung auf die albanische Volkszugehörigkeit betrieben.

Die Antragstellerin reiste am 2. September 1987 mit ihren Eltern und nun fünf minderjährigen Geschwistern in die Bundesrepublik ein; das siebte Kind wurde in der Bundesrepublik geboren (die parallelen Beschwerdeverfahren der Eltern und drei volljähriger Geschwister sind anhängig unter dem Aktenzeichen L 11 AY 11/07 ER, L 11 AY 12/07 ER, L 11 AY 13/07 ER und L 11 AY 14/07 ER und L 11 B 12/07 AY, L 11 B 13/07 AY, L 11 B 14/07 AY, L 11 B 15/07 AY).

Der Asylerstantrag der Antragstellerin wurde rechtskräftig abgelehnt (Beschluss Nds. Oberverwaltungsgericht vom 12. Dezember 1991, Az: 8 L 4353/91). Asylfolgeanträge aus den Jahren 1996 und 1999 wurden ebenfalls rechtskräftig abgelehnt. In diesen Asylverfahren gab die Antragstellerin an, jugoslawische Staatsangehörige albanischer Volkszugehörigkeit zu sein.

Im Schriftsatz des seinerzeit Bevollmächtigten vom 23. November 2000 beantragte die Antragstellerin, die Voraussetzungen des § 53 Abs 6 Ausländergesetz (AuslG) festzustellen. Dort gab die Antragstellerin erstmals an, dem Volk der Roma aus dem Kosovo zugehörig zu sein. Die Roma Zugehörigkeit sei bisher nicht offenbart worden. Es habe die Befürchtung bestanden, in die Heimat zurückgeführt zu werden. In früheren Zeiten seien die Verwaltungsbehörden bzw. Gerichte davon ausgegangen, dass Roma Zugehörige keine Verfolgung zu befürchten hätten. Die Volksgehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Roma wurde am 26. Oktober 2000 durch den Niedersächsischen Verband deutscher Sinti e.V. Hannover bescheinigt.

Die Antragstellerin ist im Besitz von fortlaufend befristeter Duldungen (§ 60 a AufenthG). Sie ist vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Im November des Jahres 2006 hat die Antragstellerin der Ausländerbehörde einen gültigen Pass vorgelegt.

Die Antragstellerin absolvierte die Grundschule L. (Klasse 1 bis 4). Im Anschluss daran besuchte sie die Schule “M.„ in N. (Schule für Lernbehinderte). Mit Zeugnis vom 20. Juni 1996 wurde ihr der erfolgreiche Abschluss bescheinigt. Die Leistungen im Pflichtunterricht wurden alle zwischen “gut„ bis “befriedigend„ bewertet. Die ledige Antragstellerin hat in den Jahren 20...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge