Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. Sozialversicherungspflicht bzw -freiheit. Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer. abhängige Beschäftigung. selbstständige Tätigkeit. Rückwirkungsverbot. BSG-Rechtsprechung. Familiengesellschaft. Stimmbindungsvereinbarung
Leitsatz (amtlich)
1. Zum Rückwirkungsverbot bei der Anwendung der neueren Rechtsprechung des BSG zur statusrechtlichen Beurteilung von Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführern.
2. Spätestens seit dem Urteil des BSG vom 29.8.2012 - B 12 KR 25/10 R = BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17 gibt es eine langjährige und gefestigte Rechtsprechung des BSG zur Bewertung der Tätigkeit eines Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführers im Rahmen einer Familiengesellschaft nicht mehr.
3. Es gab keine langjährige und gefestigte Rechtsprechung des BSG, wonach durch eine außerhalb des Gesellschaftsvertrages geschlossene schuldrechtliche Stimmbindungsvereinbarung einem Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer die Rechtsmacht verliehen werden konnte, ihm unliebsame Weisungen der Gesellschafterversammlung zu verhindern.
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aurich vom 31.5.2018 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens tragen die Antragstellerin zu 9/10 und die Antragsgegnerin zu 1/10.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird endgültig auf 105.977,42 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den nach einer Betriebsprüfung ergangenen Beitragsnachforderungsbescheid der Antragsgegnerin vom 23.3.2018 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 9.11.2018.
Die 1992 gegründete Antragstellerin betreibt u.a. einen Möbelhandel. Bei ihrer Gründung waren Gesellschafter die Eheleute G. und H. mit jeweils einem Gesellschaftsanteil von 23 % sowie deren Kinder I., J. und K. mit einem Gesellschaftsanteil von jeweils 18 %. Das Stammkapital betrug 200.000 DM. In § 7 des Gesellschaftsvertrages vom 29.12.1992 war geregelt, dass die Gesellschafterbeschlüsse stets mit einfacher Mehrheit aller abgegebenen Stimmen erfolgen, soweit nicht der Gesellschaftsvertrag oder das Gesetz eine andere Mehrheit vorschreibt. Weiterhin war in § 7 geregelt, dass dort im Einzelnen aufgezählte bestimmte Beschlüsse einer Mehrheit von zwei Dritteln des Stammkapitals bedürfen, u.a. Beschlüsse über die Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern. Mit Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 19.3.1997 wurde der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag geändert. Sämtliche Gesellschafter erhielten einen Gesellschaftsanteil von 20 %. Die vorgenannte Zwei-Drittel-Mehrheits-Regelung in § 7 wurde dahingehend geändert, dass die dort im Einzelnen aufgezählten bestimmten Beschlüsse (u.a. die Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern) nur einstimmig gefasst werden können. Die Gesellschaftsanteile wurden in der Folgezeit noch mehrfach verändert (nach dem Tod von L. ab dem 2.8.2013, H.: 30 %, übrige Gesellschafter: jeweils 23 %; nach Erbauseinandersetzung ab 19.5.2015 H.: 40 % und übrige Gesellschafter jeweils 20 %; nach dem Tod von H. ab 6.10.2015: M. jeweils 33 %). Am 12.6.2014 schlossen N. einen Pool-Vertrag, in dem sie sich verpflichteten, nach Maßgabe des § 13 b Abs. 2 Nr. 2 ErbStG über ihren jeweiligen Geschäftsanteil nur einheitlich zu verfügen oder den Geschäftsanteil ausschließlich auf den jeweils anderen Pool-Beteiligten zu übertragen und das Stimmrecht nur einheitlich in der Gesellschafterversammlung der Gesellschaft auszuüben.
Die Geschwister M. waren nach ihren eigenen Angaben ab dem 1.1.1993 bei der Antragstellerin beschäftigt und seit dem 1.1.1997 jeweils als Geschäftsführer tätig. Am 17.12.2002 schloss die Antragstellerin mit ihnen jeweils ab 1.1.2003 geltende und – mit Ausnahme der Höhe des Monatsgehalts – inhaltsgleiche Gesellschafter-Geschäftsführer-Verträge. In den Vorbemerkungen dieser Verträge ist jeweils (hier am Beispiel der Frau O.) ausgeführt: „Mit Beschluss vom 17. Dezember 2002 hat die Gesellschafterversammlung der Gesellschaft den Anstellungsvertrag von Frau O., die mit 20 v.H. der Geschäftsanteile an der Gesellschaft beteiligt ist, mit Wirkung vom 1.1.2003 geändert. Durch die zwingende Einstimmigkeit bei Beschlüssen der Gesellschaft besteht für Frau O. keine Pflichtmitgliedschaft in der Sozialversicherung.“ Vertragsregelungen waren u.a. eine Befreiung der Geschäftsführer von den Beschränkungen des § 181 BGB, ein festes Monatsgehalt, Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall für drei Monate sowie 30 Tage bezahlter Jahresurlaub. In den Folgejahren wurden die Verträge mehrfach hinsichtlich der Vergütung geändert (Vereinbarung einer Weihnachtsgratifikation in Höhe eines Monatsgehalts, Vereinbarung eines 14. Monatsgehalts und laufende Erhöhungen der festen Monatsgehälter).
Als Ergebnis einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV stellte die Antragsgegnerin nach Durchführung eines Anhörungsverfahrens mit Bescheid vom 23.3.2018 fest, ...