Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Beschwerdeausschluss in einstweiligen Rechtsschutzverfahren der Sozialgerichtsbarkeit
Leitsatz (amtlich)
1. In einstweiligen Rechtsschutzverfahren der Sozialgerichtsbarkeit ist auch bei einem Beschwerdewert von nicht mehr als 750 € die Beschwerde nach der Änderung des SGG zum 1.4.2008 durch § 172 Abs 3 Nr 1 SGG nicht schlechthin ausgeschlossen. Bei der Prüfung des Beschwerdeausschlusses sind neben dem Wert des Beschwerdegegenstandes auch die Zulassungsgründe des § 144 Abs 2 SGG heranzuziehen.
2. Die Beschwer ergibt sich in diesen Fällen allein aus der angefochtenen Entscheidung im Eilverfahren; ein - ggf anhängiges - Hauptsacheverfahren ist insoweit rechtlich unbeachtlich.
3. Eine Laktoseintoleranz kann nach dem aktuellen medizinischen Kenntnisstand eine Leistungen für Mehrbedarf rechtfertigende kostenaufwändige Ernährung aus medizinischen Gründen erfordern. Ist der Sachverhalt insoweit nicht vollständig aufgeklärt, ist über eine einstweilige Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden.
Tenor
Der Antragstellerin wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt C., D., beigeordnet; Raten sind nicht zu zahlen.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 10.Juli 2008 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren verpflichtet, dieser ab dem Monat Mai 2008 bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum Monat Januar 2009 jeweils weitere 53€ monatlich im Voraus zu zahlen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtzüge zu erstatten.
Gründe
Die Antragstellerin hat Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH). Denn sie kann nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen und die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Satz 1 ZPO).
I.
Streitig ist ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung aus medizinischen Gründen (§ 21 Abs 5 SGB II).
Die 1981 geborene Antragstellerin bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, zuletzt bewilligt mit Bescheid vom 31. Juli 2008 bis zum 31. Januar 2009. Die körperbehinderte Antragstellerin leidet seit ihrer Geburt an einer Spina bifida und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Im Mai 2007 hat sie wegen einer diagnostizierten Laktoseintoleranz Leistungen für Mehrbedarf beantragt. Das Gesundheitsamt des Antragsgegners teilte mit, die Schwere der Erkrankung sei nicht ersichtlich, und führte weiter aus, es sei vorstellbar, dass bei entsprechender Schwere der Erkrankung ein Mehrbedarf entstehe, weil eine Vielzahl marktüblicher Grundnahrungsmittel nicht vertragen werde. Eine abschließende Stellungnahme hielt es nach einer Untersuchung für möglich (Mitteilung vom 14. August 2007). Die Beteiligten vereinbarten daraufhin, dass vor einer Entscheidung über den Antrag auf Leistungen für Mehrbedarf eine weitere Stellungnahme des Hausarztes und des Gesundheitsamtes abgewartet werden solle (Aktenvermerk vom 6. September 2007). Dr E. hat in der ärztlichen Bescheinigung vom 11. September 2007 darauf hingewiesen, dass Milchzucker streng gemieden werden müsse. Zudem bestehe eine Nahrungsmittelallergie gegen Walnüsse. Da eine Vielzahl marktüblicher Grundnahrungsmittel nicht vertragen werde, hat er eine Notwendigkeit kostenaufwändiger Ernährung gesehen. Die Antragstellerin ergänzte, dass die Aufnahme von Laktose Übelkeit, Durchfall und Erbrechen verursache und dass selbst Medikamente, die Laktose enthielten, ersetzt werden müssten. Die Amtsärztin Medizinaloberrätin F. hielt demgegenüber unter Hinweis auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die Gewährung von Krankenkostzulagen 2. Aufl 1997 einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung nicht für gegeben. Eine Ausnahme hielt sie nur bei speziellen bilanzierten Formuladiäten, die als sog Heilnahrung bei Säuglingen mit chronisch protrahierter Diarrhoe und Laktoseintoleranz aufgrund eines sekundären Laktosemangels im Einzelfall aus ärztlicher Sicht indiziert seien, für möglich. Ein solcher Einzelfall sei bei der Antragstellerin ärztlich nicht attestiert. Daraufhin hat der Antragsgegner Leistungen für Mehrbedarf abgelehnt (Bescheid vom 19. Oktober 2007). Im Widerspruchsverfahren hat die Antragstellerin weitere ärztliche Bescheinigungen vorgelegt: Dr E. hat hervorgehoben, dass eine Laktoseintoleranz schon bei kleinen Mengen festgestellt worden sei. Prof Dr G. hat auch auf eine Fruktoseintoleranz aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, die Störungen bedingten, dass die Antragstellerin nur ausgewählte Nahrungsmittel zu sich nehmen könne. Er hat empfohlen, den finanziellen Mehr...