Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes. Asylbewerberleistung. keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer bei Abschiebehindernis. posttraumatische Belastungsstörung. Auswirkung des Abschiebungshindernisses auf andere Familienmitglieder. Anspruch auf Analogleistungen. Einkommenseinsatz. Ausreisepflicht. Soziokulturelles Existenzminimum. Individualanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Ist einem nach dem AsylbLG Leistungsberechtigten auf Grund einer posttraumatischen Belastungsstörung eine Rückkehr in sein Heimatland unzumutbar, kann wegen des besonderen Schutzes der Familie dessen Ehepartner die Nichtausreise leistungsrechtlich nicht vorgeworfen werden.
2. Ein Anordnungsgrund für den Erlass einer Regelungsanordnung ist regelmäßig bereits dann glaubhaft gemacht, wenn ein Anspruch auf die höheren Leistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG anstelle der gewährten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG besteht.
3. Auch nach dem AsylbLG besteht ein gesonderter Individualanspruch auf die existenzsichernden Leistungen in der gesetzlich bestimmten Höhe. Dies ist auch im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens bei der Beurteilung eines Anordnungsgrundes zu respektieren und darf nicht durch eine "Gesamtbetrachtung" unterlaufen werden. Das bedarfsmindernde "Wirtschaften aus einem Topf" ist bereits bei der Bemessung der Regelsatzhöhe berücksichtigt.
4. Bei den vom Ehepartner und den Kindern eines Leistungsberechtigten bezogenen Leistungen nach dem AsylbLG iVm dem SGB 12 handelt es sich nicht um berücksichtigungsfähiges Einkommen iS von § 7 Abs 1 AsylbLG.
Normenkette
AsylbLG § 2 Abs. 1, § 3; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; SGG § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. Juli 2010 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 23. Juni 2010 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache Leistungen gemäß § 2 Abs 1 AsylbLG unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren.
Der Antragsgegner hat die der Antragstellerin in beiden Rechtszügen entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
I.
Die 1974 geborene Antragstellerin ist syrische Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste mit ihrem Ehemann D. E. und fünf gemeinsamen Kindern im Januar 1999 nach Deutschland ein. Die Familienmitglieder beantragten hier erfolglos die Anerkennung als Asylberechtigte. Drei weitere Kinder der Antragstellerin und ihres Ehemannes wurden in Deutschland geboren. Die Familie wohnt gemeinsam in B. S. Die Antragstellerin und - soweit ersichtlich - die übrigen Familienmitglieder werden ausländerrechtlich geduldet.
Nach vorangegangenem Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG erhielten die Antragstellerin und die übrigen Familienmitglieder bis Ende 2005 Leistungen nach § 2 AsylbLG. In der Zeit von Januar bis Juli 2006 bezog die Familie nur nach § 1a AsylbLG gekürzte Leistungen. Anschließend wurden wieder Leistungen nach § 3 AsylbLG gewährt, so auch vom Antragsgegner mit Bescheid vom 21. Oktober 2007 für November 2007. Die Antragstellerin und insbesondere ihr Ehemann hätten die Dauer des Aufenthalts in Deutschland rechtsmissbräuchlich beeinflusst, weil sie bei der Beschaffung von Pässen bzw der Nachregistrierung der in Deutschland geborenen Kinder nicht ausreichend mitgewirkt hätten. Dagegen erhoben die Antragstellerin und die übrigen Familienmitglieder Widerspruch und beantragten bei dem Sozialgericht Hildesheim (SG), ihnen im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig Leistungen nach § 2 AsylbLG zuzusprechen. Das SG lehnte diesen Antrag mit Beschluss vom 9. Oktober 2008 ab. Die dagegen bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen am 17. Oktober 2008 eingelegte Beschwerde hatte Erfolg. Der seinerzeit zuständige 11. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen verpflichtete den Antragsgegner mit Beschluss vom 27. Januar 2009 - L 11 AY 122/08 ER -, der Antragstellerin und den übrigen Familienmitgliedern vorläufig ab dem 28. November 2007 bis zur Entscheidung über den Widerspruch vom 8. November 2007, längstens jedoch bis zum 31. März 2009, Leistungen gemäß § 2 Abs 1 AsylbLG unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren. Der Antragstellerin und ihrem Ehemann könne nach summarischer Prüfung ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne von § 2 Abs 1 AsylbLG nicht vorgeworfen werden. Ihnen sei zwar (voraussichtlich) der Vorwurf zu machen, dass sie vorsätzlich und mit dem Ziel des Verbleibs bzw der nachhaltigen Verzögerung des Aufenthalts in der Bundesrepublik unzureichend bei der Beschaffung der notwendigen Heimreisepapiere mitgewirkt hätten. Es könne jedoch nicht mit der notwendigen Sicherheit festgestellt werden, dass dieses - isoliert betrachtet - rechtsm...