Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Unionsbürger bei alleinigem Aufenthaltszweck der Arbeitsuche. Europarechtskonformität

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage des Ausschlusses von arbeitsuchenden Unionsbürgern von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2.

2. Bei den existenzsichernden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB 2 handelt es sich um Sozialhilfeleistungen iS des Art 24 Abs 2 UBRL (juris: EGRL 38/2004).

3. Art 24 Abs 2 UBRL (juris: EGRL 38/2004) ist mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht vereinbar (vgl EuGH vom 4.6.2009 - C-22/08, C-23/08 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 5).

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 2. Februar 2010 aufgehoben.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Kosten für das Antrags- und Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin richtet sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg (SG) vom 2. Februar 2010, mit dem die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet worden ist, dem Antragsteller vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 2010 zu gewähren.

Der 1988 in E. geborene Antragsteller ist polnischer Staatsangehöriger. Er reiste am 26. Februar 2009 von Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein.

Als Grund für seine Einreise hat der Antragsteller im erstinstanzlichen Verfahren die Betreuung und Unterstützung seiner in F. lebenden und psychisch kranken Mutter, seiner schwer gehbehinderten Großmutter sowie seiner bei der Mutter lebenden 11- und 13-jährigen Geschwister angegeben. Er verfügt über eine bis zum 30. Juni 2010 befristete Bescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU), die ihn zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt. Die Agentur für Arbeit erteilte ihm mit Wirkung ab 24. April 2009 eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU für eine berufliche Tätigkeit jeglicher Art . Vom 5. Juni bis 1. August 2009 war er in F. als Produktionshelfer abhängig beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete infolge einer vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung.

Am 10. August 2009 beantragte der Antragsteller erstmals Leistungen nach dem SGB II, die von der Antragsgegnerin unter Hinweis auf den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II abgelehnt wurden (Bescheid vom 19. August 2009 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2009). Dagegen verpflichtete das SG Lüneburg die Antragsgegnerin in einem vom Antragsteller eingeleiteten sozialgerichtlichen Eilverfahren zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. 520,00 € für die Zeit vom 13. November bis 31. Januar 2010. Das SG begründete diese Entscheidung damit, dass dem Antragsteller gem. § 7 Abs. 3 Buchstabe a) und c) der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, (Richtlinie 2004/38/EG - sog. Unionsbürgerrichtlinie - UBRL) der Arbeitnehmerstatus noch für weitere sechs Monate erhalten bleibe, so dass der Anspruch auf SGB-Leistungen zumindest bis Ende Januar 2010 nicht gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen sei (Beschluss vom 23. November 2009 - S 31 AS 1761/09 ER).

Mit zwei Bescheiden vom 26. Januar 2010 gewährte die Antragsgegnerin auf den Folgeantrag des Antragstellers Leistungen nach dem SGB II nur noch für den 1. Februar 2010, lehnte dagegen eine darüber hinausgehende Leistungsgewährung unter Hinweis auf den zwischenzeitlich eingetretenen Ablauf der 6-Monatsfrist nach § 7 Abs. 3 Buchstabe c) UBRL und den hieraus resultierenden Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Gegen diese Bescheide hat der Antragsteller nach telefonischer Auskunft des den Antragsteller unterstützenden Sozialarbeiters G. vom 24. Februar 2010 noch vor Ablauf der Widerspruchsfrist Widerspruch eingelegt.

Am 1. Februar 2010 hat der Antragsteller beim SG Lüneburg um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und vorgetragen, derzeit infolge eines Schulterbruchs bis auf Weiteres arbeitsunfähig zu sein. Da ihm keine Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 12. Buch (SGB XII) gewährt würden, befinde er sich in einer akuten Notlage, auch hinsichtlich seiner medizinischen Versorgung. Sein Vermieter habe ihm wegen Zahlungsrückständen gekündigt. Er sei nicht - wie von der Antragstellerin im Bescheid ausgeführt - zum Zwecke der Arbeitsuche nach Deutschland eingereist, sondern um seinen hier lebenden Familienangehörigen zu helfen. Seit dem Verlust des Arbeitsplatzes suche er eine neue Arbeitsstelle, gerne auch in der Altenpflege. Seit dem 2...

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