Entscheidungsstichwort (Thema)

Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung für ein Kinder-Heilverfahren wegen des Vorliegens einer psychogenen Essstörung vom Typ Binge Eating Disorder. Abgrenzung zwischen Krankenhaus- und stationären Rehabilitationsbehandlungen. Überschreitung des in § 15 Abs 3 S 1 SGB 6 normierten Regelzeitraums von drei Wochen

 

Leitsatz (amtlich)

Eine zu erwartende deutliche Überschreitung des in § 15 Abs 3 S 1 SGB VI normierten Regelzeitraums von drei Wochen für stationäre Rehabilitationsbehandlungen spricht im Ergebnis für die Notwendigkeit einer stationären Krankenhausbehandlung, wenn der Schwerpunkt der vorgesehenen Behandlung durch eine aktive und fortdauernde Einwirkung von Ärzten und Psychotherapeuten auf die Patientin geprägt wird.

 

Orientierungssatz

1. Zur Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung für ein Kinder-Heilverfahren wegen des Vorliegens einer psychogenen Essstörung vom Typ Binge Eating Disorder verbunden mit einer Adipositas Grad 3, wenn ohne das Kinder-Heilverfahren eine Krankenhausbehandlung erforderlich wird.

2. Zur Abgrenzung zwischen Krankenhaus- und stationären Rehabilitationsbehandlungen (hier: auch in Bezug auf psychische Erkrankungen).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 09.11.2022; Aktenzeichen B 5 R 17/22 B)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens aus beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Erstattung wegen von der Klägerin aufgewandter Kosten für eine stationäre Leistung zur Kinderrehabilitation in Höhe von 12.056,40 €.

Die am 27. April 2001 geborene Patientin G. war im streitigen Zeitraum Schülerin der 8. Klasse einer Integrierten Gesamtschule und lebte seit Anfang 2005 bei ihrer Großmutter, der am 27. Januar 1939 geborenen H., die ihre Enkelin seit dem 1. März 2005 in Familienpflege gemäß § 33 i.V.m. § 44 Kinder- und Jugendhilfegesetz betreut (vgl. den Ausweis für Pflegeeltern, Bl. 4 VA der Klägerin). Bei den Eltern von I. bestand eine Opiatabhängigkeit; der Vater (geboren 1960) verstarb bereits 2005, die 1969 geborene Mutter der Patientin litt zum damaligen Zeitpunkt an einem nicht mehr kurablen Gebärmutterhalskrebs. G. ist im Rahmen der Familienversicherung über ihr Großmutter bei der Klägerin gesetzlich krankenversichert, ihre Großmutter ist bei der Beklagten rentenversichert.

Die Klägerin bewilligte G. bereits seit 17. Juni 2014 bis 30. Mai 2017 Maßnahmen der ambulanten Rehabilitation (vgl. Bl. 19 f. Verwaltungsvorgänge der Klägerin) in Form von Funktionstraining.

G. und ihre Großmutter beantragten am 16. Februar 2015 (Antragseingang) bei der Beklagten eine Kinderrehabilitation als Leistungen zur Teilhabe für nichtversicherte Angehörige. Dem Antrag waren u.a. ein Befundbericht des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. J. vom 12. Februar 2015 (Bl. 14, 10 VA), der Entlassungsbericht der K. Klinik über eine stationäre Gesundheitsmaßnahme vom 6. bis zum 27. August 2008 (10 R-5 VA) sowie der Bericht der Klinik L., Fachzentrum für gestörtes Essverhalten, M., vom 12. Januar 2015 (Bl. 13-11 VA) über ein ambulantes Erstgespräch in der Klinik am 9. Januar 2015 beigefügt. Der behandelnde Allgemeinmediziner Dr. J. teilte als Diagnosen mit: Somatoforme autonome Funktionsstörung des oberen Verdauungssystems; gesichert Essattacken bei anderen psychischen Störungen und gesichert Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr mit Body-Maß-Index von 35 bis unter 40 sowie als sonstige Vorerkrankungen: Postnatales Drogenentzugssyndrom (Opiate); atopische Dermatitis und Entwicklungsverzögerung. Als Diagnosen waren in dem Klinikbericht vom 12. Januar 2015 aufgeführt: Psychogene Essstörung, Typ Binge Eating Disorder; Adipositas Grad II sowie Verdacht auf Anpassungsstörungen. Nach dem Klinikbrief vom 12. Januar 2015 der Klinik L. war bei der Klägerin eine stationäre fachpsychosomatische Therapie in einem spezialisierten Zentrum indiziert. Sie sahen bei vorliegendem Leidensdruck und Eigenmotivation eine Behandlung in der Klinik L. als notwendig und indiziert an.

Mit Schreiben vom 24. Februar 2015 (Bl. 15 VA der Klägerin) leitete die Beklagte den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe aus der Versicherung von H. auf eine Rehabilitationsleistung für das Kind G. an die Klägerin weiter, nachdem der ärztliche Dienst der Beklagten eine Kinderrehabilitation nicht befürwortete, weil eine Langzeit-Kinderrehabilitation erforderlich sei (Blatt 1 VA Beklagter) und die Beklagte ihre Zuständigkeit daher nicht als gegeben ansah. Die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen der Kinderrehabilitation nach § 31 SGB VI i.V.m. den Kinderrehabilitationsrichtlinien der Rentenversicherung seien nicht erfüllt. Insbesondere müsse eine Rehabilitationsleistung, wie sie die Rentenversicherung im Rahmen ihrer Leistungsmöglichkeiten erbringen könne, zur Behandlung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Kindes geeignet sein. Dies sei hier nicht der Fall. Die möglicherweise in Betracht kommenden Leistungen w...

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