Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. freibetragsfreie Arzneimittelversorgung. atypischer Ausnahmefall. ungewöhnliche Individualverhältnisse. unerwünschte Nebenwirkungen bei Festbetrags-Arzneimitteln. Bewertung der Zumutbarkeit einer Testung weiterer Festbetrags-Arzneimittel

 

Orientierungssatz

1. Nur in atypischen Ausnahmefällen, in denen - trotz Gewährleistung einer ausreichenden Arzneimittelversorgung durch die Festbetragsfestsetzung im Allgemeinen - aufgrund der ungewöhnlichen Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich ist, gilt keine Leistungsbeschränkung auf den Festbetrag.

2. Eine ausreichende Versorgung zum Festbetrag ist in atypischen Ausnahmefällen aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse nicht mehr möglich, wenn die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit iSv § 27 Abs 1 S 1 SGB 5 erreichen.

3. Bei der Bewertung der Zumutbarkeit einer Testung weiterer Festbetrags-Arzneimittel iSv § 35 SGB 5 kommt es auf eine Gesamt-Abwägung und innerhalb derselben ua auf die Schwere und Komplexität der in Rede stehenden Erkrankung, die daraus herleitbare Schwere eines Rückfalls bei Testungen unwirksamer Medikamente und/oder die Schwere der durch weitere Testungen ausgelösten bzw auslösbaren Nebenwirkungen auf die Gesundheit an.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 04.04.2023; Aktenzeichen B 1 KR 55/22 BH)

 

Tenor

1. Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Juni 2022 wird aufgehoben.

2. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2016 sowie der weitere Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2016 werden aufgehoben.

3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit den Arzneimitteln Atacand 16 mg und Norvasc 5 mg ohne Beschränkung auf den Festbetrag zu versorgen abzüglich der gesetzlichen Zuzahlungen sowie gegen Vorlage einer ärztlichen Verordnung.

4. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

5. Die Beklagte hat 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Versorgung - Kostenübernahme (für die Zukunft) sowie Kostenerstattung (für die Vergangenheit) - mit/für die Arzneimittel Atacand 16 mg und Norvasc 5 mg ohne Beschränkung auf den Festbetrag gem. § 35 SGB V.

Der im Jahr 1967 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und leidet seit Jahren unter zahlreichen Erkrankungen wie u.a. einem Zustand nach Nierentransplantation mit Begleit- bzw. Folgeerkrankungen, einem chronischen Erschöpfungssyndrom (Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatique Syndrome ≪ME/CFS≫) sowie unter diversen Überempfindlichkeiten gegenüber bestimmten Stoffen.

Der Kläger führt zahlreiche Rechtsstreite wegen der Versorgung mit verschiedenen Arzneimitteln und Behandlungen im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes und in Hauptsache-Verfahren. Er macht dabei maßgeblich geltend, mit seiner Grunderkrankung des CFS im System der gKV nicht hinreichend versorgt zu sein. - Der erkennende Senat hat in diesem Zusammenhang betreffend den Kläger in zwei Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes zusprechend entschieden und die Beklagte (und dortige Antragsgegnerin) verpflichtet, den Kläger (und dortigen Antragsteller) mit den Arzneimitteln Bio-Lipon und Vitamin D zu versorgen (vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Beschlüsse vom 29.9.2022, L 4 KR 230/22 B ER und vom 14.10.2022, L 4 KR 373/22 B ER).

Aufgrund seines Bluthochdrucks nimmt der Kläger die Medikamente Atacand 16mg und Norvasc 5 mg, deren Wirkstoffe Amlodipin (Norvasc) und Candesartan (Atacand) jeweils in einer Festbetragsgruppe enthalten sind gem. § 35 SGB V.

Am 2.1.2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Versorgung mit bzw. Erstattung von eigenen Zahlungen oberhalb des Festbetrages für die beiden genannten Arzneimittel.

Die Beklagte lehnte den Antrag - betreffend jeweils eines der beiden Medikamente - mit zwei Bescheiden vom 22.1.2015 mit der Begründung ab, dass die beiden Medikamente in eine Festbetragsgruppe fielen und deshalb keine privaten Aufzahlungen erstattet bzw. gezahlt werden könnten.

Der Kläger erhob gegen beide Bescheide Widerspruch und machte geltend, er sei infolge eines Nierenversagens mit Bluthochdruck auf die Medikamente dringend angewiesen. Er habe in Abstimmung mit Ärzten und Apotheke diverse andere Arzneimittel ausprobiert, bis er die beiden Medikamente Atacand und Norvasc als geeignet gefunden habe.

Die Beklagte ermittelte zum Sachverhalt bei dem den Kläger behandelnden Arzt Professor E.. Der Arzt teilte zu dem Medikament Norvasc mit, es enthalte den Wirkstoff Amlodipin und werde mit einer Dosis von 5 mg bei Bedarf eingesetzt. Es komme nur dieses Arzneimittel in Betracht, weil es bei dem Kläger unter Generika zu einer paradoxen Reaktion...

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