Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistungen. Analogleistungen. rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer. passiver Widerstand gegen eine Abschiebungsmaßnahme. offenes Kirchenasyl

 

Leitsatz (amtlich)

1. Durch einen allein passiven Widerstand gegen eine Abschiebungsmaßnahme (hier die Erklärung am Flughafen, nicht zur Ausreise bereit zu sein) wird die Aufenthaltsdauer in Deutschland nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst iS des § 2 Abs 1 AsylbLG.

2. Der Aufenthalt im sog offenen Kirchenasyl, um eine Überstellung nach der Dublin-III-VO (juris: EUV 604/2013) abzuwenden, stellt keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer in Deutschland nach § 2 Abs 1 AsylbLG dar (Anschluss an BSG vom 24.6.2021 - B 7 AY 4/20 R = BSGE 132, 262 = SozR 4-3520 § 2 Nr 8).

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 5. November 2019 aufgehoben, der Bescheid des Beklagten vom 14. September 2017 sowie die konkludent durch Auszahlung erfolgten Bewilligungen von Geldleistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit von September 2017 bis November 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2018 geändert und der Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit von September 2017 bis November 2018 höhere Geldleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII zu gewähren.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Im Streit sind höhere Geldleistungen nach dem AsylbLG für September 2017 bis November 2018, insbesondere wegen des Vorwurfs eines rechtmissbräuchlichen Verhaltens i.S. des § 2 AsylbLG aufgrund der Vereitelung einer Abschiebungsmaßnahme und der Inanspruchnahme von Kirchenasyl.

Der 1985 geborene Kläger ist iranischer Staatsangehörigkeit und suchte unmittelbar nach Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Oktober 2015 (u.a. über Griechenland und Kroatien) um Asyl nach. Während des Asylverfahrens war er der im Kreisgebiet des Beklagten liegenden Gemeinde H. zugewiesen (Bescheid der Landesaufnahmebehörde - LAB - Niedersachsen vom 7.1.2016). Nachdem die Republik Kroatien die Zuständigkeit für das Asylverfahren anerkannt hatte, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den (förmlichen) Asylantrag vom 22.7.2016 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Kroatien an (Bescheid vom 1.11.2016). Der vom Kläger deswegen beim Verwaltungsgericht (VG) Braunschweig gestellte Eilantrag hatte keinen Erfolg (Beschluss des VG vom 22.11.2016 - 2 B 369/16 -).

Die am 25.1.2017 beabsichtigte Überstellung des Klägers nach Zagreb über den Flughafen Köln/Bonn fand letztlich nicht statt. Dem liegt nach dem Vermerk der LAB Braunschweig vom 26.1.2017 folgender Sachverhalt zu Grunde: Nach Eintreffen der Vollzugsbeamten der LAB Braunschweig in der Unterkunft gegen 3.45 Uhr erklärte der Kläger - verbal sehr aggressiv und fluchend - mehrfach, er werde nicht ausreisen. Nach dem Packen seiner Habseligkeiten, wobei er von Mitbewohnern der Unterkunft unterstützt wurde, trat er die ohne Zwischenfälle verlaufende Fahrt zum Flughafen an (Ankunft um 9.50 Uhr). Die Vollzugsbeamten der LAB übergaben den Kläger in die Zuständigkeit der Bundespolizei Köln und checkten das Gepäck ein. Im Anschluss wurden sie darüber informiert, dass der Kläger auf Befragen der Bundespolizei seine Bereitschaft zum Fliegen verneint und der zuständige Dienstgruppenleiter aus diesem Grund die endgültige Übernahme des Klägers abgelehnt hatte; es fehle ein Beschluss für das Verbringen des Klägers zum Flugzeug mittels Zwangsanwendung. Nach dem Auschecken des Gepäcks und einer kurzen Raucherpause war von den Vollzugsbeamten der LAB die gemeinsame Rückfahrt beabsichtigt, doch der Kläger blieb vor dem Auto trotz mehrfacher Aufforderung still stehen. Da ein gerichtlicher Vorführungstermin für eine eventuelle Abschiebungshaft nicht mehr realisierbar und der Kläger als „freier Bürger“ nicht mit Zwang in den Wagen zu verbringen war, traten die Vollzugsbeamten nach Rücksprache mit der Ausländerstelle des Beklagten und dem Landeskriminalamt Hannover allein die Rückfahrt an. Nach Einschätzung der Vollzugsbeamten sprach einer eigenen Rückreise des Klägers nichts entgegen, insbesondere weil er über ausreichende Barmittel verfügte. Ihm wurde eine Anlaufbescheinigung für den Landkreis Peine ausgehändigt.

Der einen Tag später zur Fahndung ausgeschriebene Kläger meldete sich am 1.2.2017 bei der Ausländerstelle des Beklagten und wurde taggleich in einer Einrichtung der Caritas in I. vorläufig festgenommen. Die zunächst bis zum 10.3.2017 zur Sicherung der Abschiebung angeordnete Haft (Beschluss des Amtsgerichts Peine vom 1.2.2017 - 11 XIV 1099 B -) wurde auf die Beschwerde des Klägers am 20.2.2017 (vorzeitig) beendet, u.a. weil sein insgesamt lediglich passives Verhalten schon begrifflich den Verdacht nicht begründen könne, er würde sich einer (weiteren) Abschiebung durch Flucht entziehen. Das Unterlassen gebotener M...

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