Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistungen. Grundleistungen. Anspruchseinschränkung. selbst zu vertretende Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Mitteilung des Abschiebetermins an Unterstützer. Blockade der Wohnung. Analogleistungen. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. fehlende Mitwirkung an der Abschiebung. passives Verhalten

 

Orientierungssatz

1. Eine Anspruchseinschränkung wegen des Nichtvollzugs aufenthaltsbeendender Maßnahmen aufgrund selbst zu vertretender Gründe setzt wegen ihres Beugecharakters eine Deckungsgleichheit (Kongruenz) von rechtsmissbräuchlichem Verhalten und Leistungszeitraum voraus; eine Anspruchseinschränkung kommt damit nur so lange in Betracht, wie das vorwerfbare Verhalten andauert.

2. Ein Leistungsberechtigter hat die Nichtvollziehbarkeit seiner eingeleiteten Abschiebung nicht zu verantworten, wenn er zwar durch sein Verhalten mit zur Verhinderung der Abholung aus seiner Wohnung beigetragen hat, weil er seine drohende Abschiebung und den Termin der Abholung seinen Unterstützern mitgeteilt hat, sodass diese eine Blockade durchführen konnten, er die Blockadeaktion jedoch weder initiiert oder organisiert hat, noch Einfluss auf das Blockadegeschehen hatte.

3. Das Unterlassen der Mitwirkung an einer Abschiebung allein durch passives Verhalten bzw die (wahrheitsgemäße) Erklärung, nicht ausreisen zu wollen, stellt in der Regel kein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs 1 AsylbLG dar, weil dies in seinem Unwertgehalt nicht mit einem aktiven Entziehen von der Abschiebung gleichzusetzen ist (vgl LSG Celle-Bremen vom 3.11.2022 - L 8 AY 55/21 = SAR 2023, 5 = juris RdNr 28).

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Anspruchseinschränkung wegen des Nichtvollzugs aufenthaltsbeendender Maßnahmen aufgrund selbst zu vertretender Gründe nach § 1a Nr 2 AsylbLG aF (bzw § 1a Abs 3 AsylbLG nF) setzt wegen ihres Beugecharakters eine Deckungsgleichheit (Kongruenz) von rechtsmissbräuchlichem Verhalten und Leistungszeitraum voraus; eine Anspruchseinschränkung kommt damit nur so lange in Betracht, wie das vorwerfbare Verhalten andauert. Es handelt sich bei § 1a Nr 2 AsylbLG aF (bzw § 1a Abs 3 AsylbLG nF) nicht um eine Sanktionsnorm. Sie ist nicht mehr anwendbar, wenn das den Vollzug einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme hindernde Verhalten des Ausländers geendet hat.

2. Allein passiver Widerstand gegen eine Abschiebungsmaßnahme (hier: Verbleiben in der Wohnung bei Blockade von Hausflur und -tür durch Aktivisten) ist weder ein vorwerfbares Verhalten im Sinne von § 1a Nr 2 AsylbLG aF (bzw § 1a Abs 3 AsylbLG nF) noch ein die Aufenthaltsdauer in Deutschland rechtsmissbräuchlich selbst beeinflussendes Verhalten im Sinne des § 2 Abs 1 AsylbLG.

3. Zum Vertretenmüssen im Sinne von § 1a Nr 2 AsylbLG aF 8 (bzw § 1a Abs 3 AsylbLG nF).

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. Oktober 2018 aufgehoben, soweit die Klage abgewiesen worden ist. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Änderung der Bescheide vom 9. April 2015 auch für den Zeitraum vom 1. Mai bis zum 19. September 2015 Grundleistungen nach § 3 AsylbLG und für den Zeitraum vom 20. bis zum 30. September 2015 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um höhere Leistungen nach dem AsylbLG (in der vom 1.3. bis zum 23.10.2015 geltenden Fassung vom 10.12.2014, BGBl. I 2187, - a.F.-), insbesondere um eine Leistungseinschränkung nach § 1a Nr. 2 AsylbLG.

Der 1992 geborene Kläger ist sudanesischer Staatsagehöriger. Nachdem er bereits in Ungarn einen Asylantrag gestellt hatte, reiste er am 19.6.2014 nach Deutschland ein und stellte hier einige Tage später einen Asylantrag. Er wurde der Stadt Hildesheim (im Folgenden Stadt) zugewiesen. Die ungarischen Behörden erklärten ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags nach Art. 18 Abs. 1d der Dublin-III-VO. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte daraufhin den hier gestellten Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Bescheid vom 4.9.2014). Dagegen erhob der Kläger bei dem Verwaltungsgericht (VG) Hannover Klage. Den Antrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung lehnte das VG ab (Beschluss vom 27.11.2014).

Die Stadt kündigte dem in einer ihm zugewiesenen Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses in der Innenstadt von Hildesheim wohnenden Kläger mit Schreiben vom 12.3.2015 an, er solle am 23.3.2015 nach Ungarn abgeschoben werden (Abflug Hamburg um 11.05 Uhr und Ankunft in Budapest um 12.40 Uhr). Mit Schreiben vom 16.3.2015 wurde ihm mitgeteilt, er werde am 23.3.2015 um 6.00 Uhr abgeholt und solle sich in seiner Wohnung bereithalten. Einer der beiden mit der Abholung des Klägers bea...

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