Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Grundleistung. Anspruchseinschränkung. Einreise zum Zweck des Leistungsbezuges. prägendes Motiv für die Einreise. Beendigung einer extremen materiellen Notlage im bisherigen Aufenthaltsland. selbst zu verschuldende Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Monokausalität des Fehlverhaltens des Leistungsberechtigten
Leitsatz (amtlich)
1. Voraussetzung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Nr 1 AsylbLG aF bzw § 1a Abs 2 AsylbLG ist, dass der Leistungsbezug das prägende Motiv für die Einreise nach Deutschland gewesen ist. Bei der Beurteilung der Motivationslage sind alle konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.
2. Erfolgt die Einreise nach Deutschland, um eine im vorherigen Aufenthaltsland unabweisbare materielle Notlage zu beenden, ist das ggf weitere Einreisemotiv der Lebensunterhaltssicherung durch staatliche Leistungen unter Umständen nicht in der Weise als prägend anzusehen sein, dass eine Einschränkung nach § 1a Nr 1 AsylbLG aF bzw § 1a Abs 2 AsylbLG gerechtfertigt ist. Dies ist in aller Regel anzunehmen, wenn die leistungsberechtigte Person vor der Einreise einer extremen materiellen Notlage ausgesetzt gewesen ist, die der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iS des Art 4 GRCh (juris: EUGrdRCh)/Art 3 EMRK (juris: MRK) gleichkommt.
3. Die Anspruchseinschränkung nach § 1a Nr 2 AsylbLG aF bzw § 1a Abs 3 S 1 AsylbLG setzt ein Fehlverhalten des Leistungsberechtigten voraus, das monokausal für seine Nichtabschiebung ist. Das Erfordernis der Kausalität ist nur erfüllt, wenn keine außerhalb des Verantwortungsbereichs des Leistungsberechtigten liegenden Sachverhalte mitursächlich für den Nichtvollzug der Abschiebung sind (vgl BSG vom 27.2.2019 - B 7 AY 1/17 R = SozR 4-3520 § 1a Nr 3 RdNr 27).
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. Juni 2016 aufgehoben und die Bescheide der Beklagten vom 15. und 21. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2015 geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 13. Februar bis zum 30. Juni 2015 unter Anrechnung für diesen Zeitraum bereits gewährter Leistungen Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu bewilligen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Verfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG für die Zeit vom 13.2. bis 30.6.2015, insbesondere wegen des Vorwurfs einer Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs.
Die 1985 geborene Klägerin ist Staatsangehörige Nigerias und alleinerziehende Mutter ihrer kurz nach der Einreise nach Italien Mitte 2009 geborenen Tochter. Nach Anerkennung Internationalen Schutzes durch Italien reiste sie Anfang März 2014 nach Deutschland ein und gab bei der Stellung der Asylanträge (für sich und ihre Tochter) an, Staatsangehörige der Elfenbeinküste zu sein. Das BAMF lehnte die Asylanträge nach einem Treffer in der europäischen Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken (EURODAC) - aber ohne Kenntnis von der Flüchtlingsanerkennung - wegen einer vorrangigen Zuständigkeit Italiens für den Asylantrag nach der sog. Dublin-III-Verordnung, VO (EU) 604/2013, ab und ordnete die Abschiebung in dieses Land an (Bescheid vom 13.5.2014). Die der Klägerin Anfang Oktober 2014 angekündigte Abschiebung scheiterte am 14.10.2014, weil ihr und ihrer Tochter von der Kirchengemeinde H. ab dem 13.10.2014 „Kirchenasyl“ gewährt wurde. Nachdem bereits die Abschiebungsanordnung wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Italien vom BAMF aufgehoben worden war, hatte die gegen den Bescheid vom 13.5.2014 beim Verwaltungsgericht Göttingen erhobene Klage auch insoweit Erfolg, dass die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig aufgehoben wurde und damit eine erneute Entscheidung über die Asylanträge durch das BAMF erfolgen musste (Urteil vom 26.2.2015 - 3 A 278/14 -).
Nach Beendigung des Kirchenasyls, Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft und Ausstellung einer Duldung beantragte die Klägerin bei der Beklagten am 13.2.2015 Leistungen nach dem AsylbLG, die ihr und ihrem Kind zunächst als Abschlag bzw. Notzahlung in monatlicher Höhe von 506,81 € gewährt wurden (in unterschiedlicher Höhe ausgezahlt am 13., 19. und 25.2., 16. und 30.3. sowie am 14. und 30.4.2015). Mitte März 2015 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten Einschränkung der Leistungen an, weil aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von der Klägerin zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden könnten. Diese machte daraufhin geltend, die Inanspruchnahme von Kirchenasyl stelle kein vorwerfbares Untertauchen dar, und erklärte bei einer persönlichen Vorsprache bei der Beklagten (Fachbereich Soziales) am 26.3.2015 u.a. zu ihren Einreisemotiven, sie habe nicht mehr gewusst, wovon ihr Kind und sie in Italien leben sollten, und sich keine Gedanken gemacht, wovon sie in Deutschland leben wol...