Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Anspruchseinschränkung. Einreise zum Zweck des Leistungsbezuges. prägendes Motiv für die Einreise im Einzelfall. Grundleistungen. Unterkunft. Ermessen hinsichtlich der Gewährung von Geld- oder Sachleistungen. Analogleistungen. wesentliche Unterbrechung des Aufenthalts im Bundesgebiet
Leitsatz (amtlich)
1. Voraussetzung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 1 AsylbLG aF bzw § 1a Abs 2 AsylbLG ist, dass der Leistungsbezug das prägende Motiv für die Einreise nach Deutschland gewesen ist. Bei der Beurteilung der Motivationslage sind alle konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.
2. Ist das prägende Motiv der Einreise nach Deutschland, sich eine Lebensgrundlage durch Erwerbstätigkeit zu schaffen und unabhängig von staatlichen Leistungen zu leben, ist eine Einschränkung nach § 1a Abs 1 AsylbLG aF bzw § 1a Abs 2 AsylbLG nicht gerechtfertigt.
3. Bei der Ermessensentscheidung über die Gewährung von Sach- oder Geldleistungen für die Unterkunft nach § 3 Abs 2 S 4 AsylbLG aF bzw § 3 Abs 3 S 3 AsylbLG sind die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die bisherige und voraussichtliche Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland (vgl LSG Celle-Bremen vom 2.7.2020 - L 8 AY 37/20 B ER = Breith 2021, 152 = juris RdNr 11 ff).
4. Die Abschiebung eines Ausländers stellt regelmäßig eine wesentliche Unterbrechung seines Aufenthalts in Deutschland iS des § 2 Abs 1 AsylbLG dar.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. April 2018 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit sind höhere Leistungen nach dem AsylbLG für Februar 2017, insbesondere die Rechtmäßigkeit einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG wegen des Vorwurfs der Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs (sog. Um-zu-Einreise).
Der 1993 geborene Kläger ist somalischer Staatsangehöriger, wurde nach seiner Einreise nach Europa als erstes von Italien erkennungsdienstlich erfasst (EURODAC) und reiste im Mai 2013 erstmals nach Deutschland ein. Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag des Klägers, der der Stadt Hildesheim (im Folgenden Stadt) zugewiesen war, als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet hatte (Bescheid vom 10.2.2014), ordnete das Verwaltungsgericht (VG) Hannover die aufschiebende Wirkung der hiergegen gerichteten Klage (- 4 A 2106/14 -)an (Beschluss des VG vom 9.4.2014 - 4 B 2107/14 -). Die Klage hatte letztlich keinen Erfolg (Urteil des VG vom 4.2.2016). Eine unmittelbar nach dem Gerichtsverfahren für die Zeit vom 15.2. bis zum 15.8.2016 begonnene Einstiegsqualifizierung zum Ausbildungsberuf des Elektronikers für Energie- und Gebäudemanagement brach der Kläger Mitte April 2016 ab. Stattdessen bemühte er sich um eine Anstellung als Zeitschriftenausträger (Stellenbeschreibung der H. GmbH & Co. KG vom 19.9.2016). Die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit wurde nicht erteilt. Am 22.9.2016 wurde der Kläger nach Italien abgeschoben. Zuvor hatte die Stadt das Einreise- und Aufenthaltsverbot für Deutschland auf 18 Monate nach erfolgter Abschiebung befristet (Bescheid vom 19.9.2016).
Unmittelbar nach der Abschiebung nach Italien reiste der Kläger wieder nach Deutschland ein und beantragte beim BAMF, im Rahmen eines neuen Verfahrens über den bislang als unzulässig eingestuften Asylantrag nach nationalem Recht zu entscheiden. Gegen die erneute Anordnung der Abschiebung nach Italien (Bescheid des BAMF vom 29.3.2017) erhob der zu dieser Zeit geduldete Kläger (Duldung der Stadt vom 16.11.2016) beim VG Hannover Klage (- 4 A 3082/17 -), deren aufschiebende Wirkung angeordnet wurde (Beschluss vom 10.4.2017 - 4 B 3083/17 -). Zur Begründung hat das VG ausgeführt, dass die Abwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugs- und dem privaten Aussetzungsinteresse bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Klärung von Fragen zur Sekundärmigration innerhalb der Europäischen Union und der Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich der Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge in Italien (BVerwG, Beschluss vom 27.6.2017 - 1 C 26.16 -, beim EuGH anhängig - C-517/17 -), zugunsten des Klägers ausgehe. Die Klage wurde 2019 abgewiesen (Urteil des VG vom 11.4.2019), weil nach einer Entscheidung des Nds. Oberverwaltungsgerichts (Urteil vom 4.4.2018 - 10 LB 96/17 -) die Lebensbedingungen von nach Italien zurückgekehrten Asylbewerbern (sog. Dublin-Rückkehrer) einer Abschiebung des Klägers nicht entgegenstünden.
Nachdem der Kläger während seines Voraufenthalts in Deutschland zuletzt im Leistungsbezug nach § 2 AsylbLG gestanden und Anfang August 2016 mit Zustimmung der vom beklagten Kreis herangezogen...