Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirtschaftlichkeitsprüfung. Richtgrößenregress. Bescheidungsurteil nach Anfechtungsklage. keine Anerkennung von Praxisbesonderheiten durch Quantifizierung mit erkennbar pauschaler Begründung
Leitsatz (amtlich)
1. Auf die Anfechtungsklage eines Vertragsarztes, die gegen einen ihn belastenden Bescheid im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung gerichtet ist, kann lediglich ein Bescheidungsurteil in entsprechender Anwendung des § 131 Abs 3 SGG ergehen.
2. Dem Beschwerdeausschuss ist es bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Richtgrößen verwehrt, von ihm anerkannte Praxisbesonderheiten im Rahmen der Quantifizierung mit erkennbar pauschaler Begründung immer nur zu 50 vH anzuerkennen.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. September 2011 und der Bescheid des Beklagten vom 14. Januar 2010 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, über die Wirtschaftlichkeit der von der Klägerin im Jahr 2002 verordneten Arznei- und Heilmittel unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.
Der Beklagte trägt die Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 24.848 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Richtgrößenregresses.
Die Klägerin nimmt als Fachärztin für Innere Medizin ohne Teilgebietsbezeichnung an der vertragsärztlichen Versorgung in F. teil. 2002 verordnete sie Arznei-, Verband- und Heilmittel iHv 711.230,35 Euro (brutto) und überschritt damit die fachgruppenbezogene Richtgröße um 73,95 vH.
Im Anschluss setzte der Prüfungsausschuss Niedersachsen gegen die Klägerin einen Richt-größenregress iHv 75.288,74 Euro fest. Dabei berücksichtigte der Ausschuss Praxisbesonderheiten der Klägerin iHv 104.704,98 Euro und weitere Abzüge iHv 1.459,48 Euro (Bescheid vom 30. November 2006).
Auf den Widerspruch der Klägerin reduzierte der beklagte Beschwerdeausschuss den Richtgrößenregress auf 24.847,59 Euro. Dafür bereinigte er zunächst die Daten der verwandten Einzelverordnungsstatistik zusätzlich iHv 1.433,05 Euro (wegen fehlerhaft enthaltener Hilfsmittelverordnungen und unklarer Datensätze). Ferner stufte er freiwillig versicherte Patienten, die die Altersgrenze von 65 Jahren überschritten hatten und bisher als “Mitglieder„ (M) bzw “Familienangehörige„ (F) geführt worden waren, als “Rentner„ (R) ein; dies führte zu einem zusätzlichen Differenzbetrag zugunsten der Klägerin iHv 6.495,28 Euro. Außerdem erkannte der Beklagte weitere Praxisbesonderheiten der Klägerin iHv 49.001,12 Euro an (nach den Anl 3.1 und 3.2 der Richtgrößenvereinbarung ≪RGV≫, 50 vH der Verordnungen für die Versorgung von Patienten mit kardiologischen Erkrankungen typischerweise eingesetzter Statine bzw antithrombotischer Mittel). Weitere Besonderheiten seien aber nicht ersichtlich (Bescheid vom 14. Januar 2010).
Hiergegen hat die Klägerin am 27. Januar 2010 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Die Richtgrößenprüfung sei in mehrfacher Hinsicht formell rechtswidrig (treuwidrig späte Einleitung des Prüfverfahrens, falsche Ermittlung und zu späte Veröffentlichung der Richtgrößen für 2002, Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs). Materiell-rechtlich seien die der Richtgrößenprüfung zugrundeliegenden Verordnungsdaten in hohem Maße fehlerhaft (wegen weiterer Datenmängel, fehlender Berücksichtigung von Einmalzahlung der Pharmaindustrie/Retaxierungen/Patientenzuzahlungen). Außerdem sei ihr zu Unrecht der Abschluss einer regressablösenden Individualvereinbarung vorenthalten worden. Schließlich habe der Beklagte die von ihr bereits im Verwaltungsverfahren durch fortlaufende Listen vorgetragenen Praxisbesonderheiten entweder in einem nicht nachvollziehbaren Umfang oder nur unzureichend berücksichtigt.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 14. September 2011 abgewiesen. Zwar sei der Bescheid des Beklagten vom 14. Januar 2010 mangels einer ausreichenden Begründung iSv § 35 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) formell rechtswidrig; allerdings sei die Klägerin dadurch nicht in ihren Rechten verletzt. So habe der Beklagte nicht ausreichend iSv § 35 SGB X dargelegt, weshalb er die von der Klägerin geltend gemachten Praxisbesonderheiten teilweise anerkannt und teilweise nicht anerkannt habe. Der Formmangel sei aber nach § 42 SGB X unbeachtlich, weil eine für die Klägerin günstigere Entscheidung ausgeschlossen sei. Auch die Kammer habe nämlich nicht erkennen können, dass der Beklagte zur Festsetzung eines geringeren Regresses verpflichtet sein könnte. Hinsichtlich der weiteren Einwendungen der Klägerin sei der Bescheid des Beklagten - entgegen ihrer Auffassung - nicht zu beanstanden.
Gegen dieses Urteil (zugestellt am 30. Januar 2012) wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung vom 10. Februar 2012. Sie hält die Entscheidung des SG gleich in mehrfacher Hinsicht für rechtsfehlerhaft. Zunächst habe der Bekla...