Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirtschaftlichkeitsprüfung. Darlegungs- und Feststellungslast des Arztes für Praxisbesonderheiten. Sachaufklärungspflicht der Prüfgremien bei Annahme einer Vortragsergänzung
Orientierungssatz
Die gesteigerte Mitwirkungspflicht des Arztes im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen befreit die Prüfgremien nicht von ihrer Verpflichtung, den zugrunde liegenden Sachverhalt ggf von Amts wegen (§ 20 SGB 10) aufzuklären. Davon sind Prüfverfahren betroffen, in denen Anlass zu der Annahme besteht, dass der Arzt seinen bisherigen Vortrag ergänzen kann.
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. September 2011 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass dieser verurteilt wird, über die Wirtschaftlichkeit der von der Klägerin im Jahr 2003 verordneten Arznei- und Heilmittel unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.
Der Beklagte trägt die Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 12.952 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Richtgrößenregresses.
Die Klägerin nimmt als Fachärztin für Innere Medizin ohne Teilgebietsbezeichnung an der vertragsärztlichen Versorgung in F. teil. 2003 verordnete sie Arznei-, Verband- und Heilmittel iHv 792.995,12 Euro (brutto) und überschritt damit die fachgruppenbezogene Richtgröße um 92,85 vH.
Im Anschluss setzte der Prüfungsausschuss Niedersachsen gegen die Klägerin einen Richtgrößenregress iHv 145.687,87 Euro fest. Dabei berücksichtigte der Ausschuss Praxisbesonderheiten der Klägerin iHv 92.345,80 Euro und weitere Abzüge iHv 1.385,56 Euro (Bescheid vom 13. November 2007).
Auf den Widerspruch der Klägerin reduzierte der beklagte Beschwerdeausschuss den Richtgrößenregress auf 12.952,23 Euro. Dafür bereinigte er zunächst die Daten der verwandten Einzelverordnungsstatistik iHv 2.072,88 Euro (wegen fehlerhaft enthaltener Hilfsmittelverordnungen und unklarer Datensätze). Ferner stufte er freiwillig versicherte Patienten, die die Altersgrenze von 65 Jahren überschritten hatten und bisher als “Mitglieder„ (M) bzw “Familienangehörige„ (F) geführt worden waren, als “Rentner„ (R) ein; dies führte zu einem zusätzlichen Differenzbetrag zugunsten der Klägerin iHv 4.517,94 Euro. Außerdem erkannte der Beklagte weitere Praxisbesonderheiten der Klägerin iHv 157.383,10 Euro an (nach den Anl 3.1 und 3.2 der Richtgrößenvereinbarung (RGV), 50 vH der Verordnungen für die Versorgung von Patienten mit kardiologischen Erkrankungen eingesetzter Statine bzw antithrombotischer Mittel, weitere zwei Patienten mit besonderem Versorgungsbedarf). Weitere Besonderheiten seien aber nicht ersichtlich (Bescheid vom 9. Juni 2011; berichtigt durch Bescheid vom 13. Juli 2011).
Die Klägerin hat am 16. Juni 2011 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Die Richtgrößenprüfung sei in mehrfacher Hinsicht formell rechtswidrig (treuwidrig späte Einleitung des Prüfverfahrens, zu späte Veröffentlichung der Richtgrößen für 2003, falsche Ermittlung der Richtgröße für 2003, Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs). Zudem seien die der Richtgrößenprüfung zugrunde gelegten Verordnungsdaten in hohem Maße fehlerhaft, da weitere Datenmängel, Einmalzahlungen der Pharmaindustrie, Retaxierungen und Patientenzuzahlungen nicht gesondert berücksichtigt worden seien. Zudem sei der Klägerin der Abschluss einer regressablösenden Individualvereinbarung vorenthalten worden. Ferner habe der Beklagte die Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten intransparent gehandhabt und im Verwaltungsverfahren durch fortlaufende Listen vorgetragene Praxisbesonderheiten nur unzureichend berücksichtigt.
Das SG hat mit Urteil vom 14. September 2011 den Bescheid des Beklagten vom 9. Juni 2011 (unter Benennung des Beschlussdatums) aufgehoben. Zu Unrecht habe der Beklagte in dem Bescheid die von der Klägerin im Verwaltungsverfahren geltend gemachten Praxisbesonderheiten der Anl 3 der RGV unberücksichtigt gelassen. Die teilweise unvollständigen Angaben der Klägerin hierzu hätte der Beklagte von Amts wegen nach § 20 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aufklären müssen. Im Übrigen sei der Bescheid des Beklagten zwar mangels einer ausreichenden Begründung iSv § 35 SGB X formell rechtswidrig; allerdings sei die Klägerin dadurch nicht in ihren Rechten verletzt. So habe der Beklagte nicht ausreichend iSv § 35 SGB X dargelegt, weshalb er die von der Klägerin geltend gemachten Praxisbesonderheiten teilweise anerkannt und teilweise nicht anerkannt habe. Der Formmangel sei aber nach § 42 SGB X unbeachtlich, weil eine für die Klägerin günstigere Entscheidung ausgeschlossen sei. Auch die Kammer habe nämlich nicht erkennen können, dass der Beklagte zur Festsetzung eines geringeren Regresses verpflichtet sein könnte.
Gegen dieses Urteil (zugestellt am 30. Januar 2012) wendet sich der Beklagte mit seiner Beruf...