Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. neue Behandlungsmethode. stationäre Liposuktion. Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative iSd § 137c Abs 3 SGB 5. herabgesetzte Anforderungen an die geforderte Evidenz im Rahmen des Qualitätsgebots. Leistungserbringung durch nicht an der Erprobung nach § 137e SGB 5 teilnehmende Krankenhäuser
Orientierungssatz
1. Das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative mag noch nicht erreicht sein, wenn, wie im Falle von § 2 Abs 1a S 1 SGB 5, nur eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Allerdings ist auch nicht erforderlich, dass die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) die Behandlungsmethode befürwortet, und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht (so BSG vom 21.3.2013 - B 3 KR 2/12 R = BSGE 113, 167 = SozR 4-2500 § 137c Nr 6, RdNr 12 zur vor dem 23.7.2015 geltenden Fassung des § 137c SGB 5 vor Einfügung des hier angewandten Abs 3).
2. Das Gesetz setzt in § 137c Abs 3 SGB 5 mit dem Begriff "Potential" die Anforderungen an die geforderte Evidenz im Rahmen des Qualitätsgebots im Sinne des § 2 Abs 1a S 3 SGB 5 herab (vgl LSG Stuttgart vom 17.11.2015 - L 11 KR 1116/12 = juris RdNr 62).
3. Eine Leistungserbringung kommt nicht lediglich durch die an der Erprobungsrichtlinie teilnehmenden Krankenhäuser in Betracht. Ein solches Ausschlussverhältnis lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Im Gegenteil: § 137e Abs 2 S 3 SGB 5 setzt die Möglichkeit der Leistungserbringung durch nicht an der Erprobung teilnehmende Krankenhäuser voraus.
4. Zum Anspruch auf eine stationäre Liposuktion bei Lipödem.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. Juni 2015 aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 30. April 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. April 2013 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einer stationären Liposuktion an beiden Beinen zu versorgen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Braunschweig, mit dem ihre Klage auf Verurteilung der beklagten Krankenkasse (KK), sie mit einer stationären Liposuktion bei Lipödem der Beine zu versorgen, abgewiesen worden ist.
Die Klägerin (* 1988) ist gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin und als OP-Schwester abhängig beschäftigt. Sie ist pflichtversichertes Mitglied der Beklagten. Im Februar 2012 beantragte sie bei ihrer KK die Versorgung mit drei stationären Liposuktionen (Schreiben v. 26. Februar 2012 = Bl 9 des von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsvorgangs (VV) = Bl 43 dA und zuvor bereits Schreiben der F. am G. v. 2. Februar 2012 = Bl 4 VV = Bl 41 dA (Dr. H.)). Zum damaligen Zeitpunkt wog die 1,68 m große Klägerin 70 kg (Foto unter Bl 15 VV). Zur Begründung führte sie aus: Seit Anfang 2008 leide sie vermehrt unter schmerzhaften Beinen und unter häufigen Hämatomen an den Beinen. Der Umfang der Beine habe immer mehr zugenommen. Sie übe ganztägig eine stehende Tätigkeit aus; schon nach kurzer Zeit schmerzten ihr die Beine. Seit Anfang 2011 erhalte sie nach ärztlicher Verordnung wöchentlich Lymphdrainagen und trage eine Kompressionsbestrumpfung, jeweils mit nur geringfügigem Erfolg. Im Sommer 2011 habe sie ein Lymphapress-Gerät angeschafft und nutze dieses regelmäßig. Sie ernähre sich seit Jahren gesund und ausgewogen und treibe seit 2009 regelmäßig Ausgleichssport im Fitnessstudio. Auch ihre Mutter habe an einem Lipödem gelitten. Nachdem auch dieser die konventionellen Therapien nicht angeschlagen hätten, seien ab August 2011 Liposuktionen durchgeführt worden. Der bisherige Erfolg spreche für sich. Da sie, die Klägerin, noch sehr jung sei und ihren Beruf auch in Zukunft ohne Einschränkungen ausüben möchte und auch über eine Familienplanung nachdenke, begehre sie die Kostenübernahme für drei stationäre Liposuktionen. Dr. H. hielt eine Behandlung in drei Sitzungen im Abstand von drei Monaten unter stationären Bedingungen für erforderlich (s. das bereits erwähnte Schreiben der I. Klinik am J.).
Auf Veranlassung der Beklagten (Schreiben v. 29. Februar 2012 = Bl 10 VV) gab der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) Niedersachsen eine sozialmedizinische Stellungnahme nach Aktenlage ab (v. 20. April 2012 = Bl 19 VV (Dr. K.)). Er lehnte eine Empfehlung unter Hinweis auf das Fehlen der medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung ab. Als Diagnose stellte er ein beginnendes Lipödem (max Stadium I); ein operationsbedürftiger Befund liege nicht vor, Kompressionstherapie sei ausreichend.
Die Beklagte lehnte den Antrag daraufhin ab (Bescheid v. 30. April 2012 = Bl 22 VV = Bl 13 = Bl 46 dA). Bei der beantragten Leistung handle es sich um...