Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen B. Begleitperson. sozialgerichtliches Verfahren. keine inzidente Feststellung des Merkzeichens G ohne vorherige Verwaltungsentscheidung. Verdacht auf psychogene Sehstörung ohne eindeutigen Befund. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Störung der Orientierungsfähigkeit. Sehstörung mit GdB von 70. bestandskräftiger GdB-Bescheid. keine Bindungswirkung der Feststellung einzelner Funktionsbeeinträchtigungen

 

Leitsatz (amtlich)

Die Feststellung des Merkzeichens B ist - auch abgesehen von der hier fehlenden Voraussetzung der zugleich bestehenden Feststellung des Merkzeichens G, H oder Gl - nicht allein aufgrund des formalen Kriteriums eines festgestellten GdB von 70 berechtigt, den die Klägerin zwar mit einer Sehstörung verbindet, eine derartige Feststellung einer Sehstörung jedoch (anders als der festgestellte GdB von 70) weder in Bestandskraft erwachsen ist noch zur Überzeugung des Senats überhaupt belastbar zu belegen ist (vgl Teil D Nr 1 f, 2 c VMG).

 

Orientierungssatz

1. Von daher kann die Frage, ob die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu psychogenen Gangstörungen (vgl BSG vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 21) auf dissoziative Sehstörungen entsprechend anwendbar ist, dahinstehen.

2. Das Gericht darf bei Geltendmachung des Merkzeichens B nicht inzident das Vorliegen des Merkzeichens G (als dessen Voraussetzung) feststellen, wenn hierüber noch keine Verwaltungsentscheidung ergangen ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 18.11.2021; Aktenzeichen B 9 SB 34/21 B)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 17. März 2020 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung des Merkzeichens B. Berufungsführer ist der Beklagte, der mit Urteil des Sozialgerichts (SG) Oldenburg vom 17. März 2020 verpflichtet worden ist, das Merkzeichen B bei der Klägerin festzustellen.

Der Grad der Behinderung (GdB) der 1969 geborenen Klägerin ist seit dem 7. Januar 1994 gemäß Bescheid vom 17. Juli 1995 mit 70 festgestellt. Nachdem seinerzeit eine „seelische Behinderung“ mit einem Einzel-GdB von 60 und eine „Sehbehinderung“ mit einem Einzel-GdB von 30 festgestellt worden waren, erteilte der Beklagte nach einer öffentlichen Sitzung des SG Oldenburg vom 27. Mai 1999 unter dem 21. Juni 1999 einen neuen Ausführungsbescheid, in welchem der festgestellte GdB unverändert blieb, als zugrundeliegende Funktionsbeeinträchtigung jedoch eine „seelische Beeinträchtigung mit psychogenen Sehstörungen“ benannt wurde. Zuvor war im genannten Gerichtstermin erörtert worden, dass nach der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Verfügungsteil des Verwaltungsakts nur die Höhe des GdB festzustellen sei, also nicht einzelne Behinderungen.

Die Klägerin hatte am 24. April 1990 erstmals einen Antrag auf Feststellung eines GdB gestellt. Der Beklagte fragte die Augenärztin Dr. J., die mitteilte, es bestehe keine sichere Diagnose. Auf eigenen Wunsch der Klägerin würden starke Kontaktlinsen getragen, die Sehschärfe betrage angeblich auf beiden Augen 1/50 mit Kontaktlinsen. Die Kontaktlinsen entsprächen objektiv nicht der Refraktion. Auf Fragen, wie die Klägerin mit ihrer Behinderung lebe, seien sowohl aus der Schulzeit als auch aus dem Studium oder z. B. in Bezug auf Reisen erstaunliche Leistungen berichtet worden, nicht hingegen Einschränkungen durch die Behinderung, so dass ärztlicherseits Zweifel an der in der ambulanten Sprechstunde ermittelten Sehleistung bestünden. Der Augenarzt Dr. K. teilte unter dem 16. August 1990 mit, auch dort hätte eine Ursache für die Sehschwäche nicht gefunden werden können, vielmehr seien sämtliche Untersuchungen normal gewesen: Pupillenreflexe, Gesichtsfelder, brechende Medien, Augenhintergrund. Die Klägerin sei alsdann einbestellt worden für eine objektive Prüfung des Sehvermögens mit einem Nystagmusgerät, hierzu sei die Klägerin nicht erschienen, so dass die Sehschwäche nicht objektiviert werden könne. Es könne daran gedacht werden, dass es sich um einen schweren Fall von jahrelang anhaltender funktioneller Störung handele. Nachzutragen sei, dass Befund und Sehvermögen im Dezember 1976 bei einer Untersuchung durch ihn selbst normal gewesen seien, als die Klägerin 7 Jahre alt gewesen sei. Aufkommende Sehbeschwerden sind zwischenzeitlich in einem Bericht der Medizinischen Hochschule L. (M.) aus Dezember 1982 sowie der N. aus dem Frühjahr 1987 dokumentiert. Die Ursache der berichteten Sehbehinderung blieb auch in diesen Untersuchungen unklar.

Daraufhin wurde bereits im ersten Verwaltungsverfahren ein augenärztliches Gutachten eingeholt, erstellt durch den Oberarzt Dr. O. vom P. Q. unter dem 13. Februar 1991. Er teilte mit, im Gegensatz zur subjektiv angegebenen Sehschärfe von weniger als 1/50 beiderseits bestehe nach den durchgeführten Funktionsproben nachweislich eine Mindest-Sehschärfe von 0,7 beiderseits. Die Klägerin leide ganz...

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