Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewertung eines Asperger-Syndroms im Schwerbehindertenrecht

 

Orientierungssatz

1. Maßgeblich für die Bewertung einer Behinderung im Schwerbehindertenrecht nach §§ 2 Abs. 1, 152 Abs. 1 und 3 SGB 9 ist, wie sich deren nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirkt. Dabei ist das Gericht nicht an den Vorschlag des von ihm gehörten Sachverständigen gebunden (BSG Beschluss vom 20. 4. 2015, B 9 SB 98/14 B).

2. Bei einem Asperger-Syndrom setzt dessen Bewertung mit einem GdB von 50 voraus, dass die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung, etwa durch einen Integrationshelfer, möglich ist.

3. Nach dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19.03.1998 sind psychische Anpassungsschwierigkeiten, die einen Einzel-GdB von 30 bis 40 rechtfertigen, durch Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße gekennzeichnet.

4. Besteht neben dem autistischen Störungsbild des Asperger-Syndroms eine ausgeprägte depressive Symptomatik, so ist die bestehende Funktionsbeeinträchtigung mit einem Gesamt-GdB von 40 zu bewerten.

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger 1/3 der notwendigen Kosten des Widerspruchs- und Klageverfahrens, für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 statt nunmehr 40 (gemäß einem Teilanerkenntnis des Beklagten vom 13. November 2020, zuvor 30) und mithin die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.

Der 1979 geborene Kläger stellte aufgrund eines Asperger-Syndroms am 23. Februar 2016 den Erstfeststellungsantrag, der den Ausgangspunkt des hier anhängigen Rechtsstreits darstellt. Er ist Berufskraftfahrer, arbeitete jedenfalls bei Antragstellung nur nachts, er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Im Antrag gab er an, er sei als Kind sehr auffällig gewesen, habe keine Freunde gehabt und sei aggressiv gewesen. Im Übrigen schilderte er Alltagssymptome, wie sie für Autismus nicht untypisch sind. Er legte einen Bericht der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. vom 28. Januar 2016 vor, wonach eine autistische Störung beim Kläger gesichert sei, zudem bestehe eine Adipositas mit einem Body-Maß-Index (BMI) von 40 und mehr. Nach Konsultation des Ärztlichen Dienstes stellte der Beklagte mit Bescheid vom 22. März 2016 den GdB des Klägers mit 20 fest. Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren verwies der Kläger auf das Vorliegen einer ausgeprägten autistischen Störung, die Berufstätigkeit erfolge ausschließlich nachts und auf einer festgelegten Route ohne jeglichen Kundenkontakt. Zu ihrer Ausübung sei er nur in der Lage, weil es sich hier um wiederkehrende Abläufe handele. Der erneut befragte Ärztliche Dienst wies in einer weiteren Stellungnahme darauf hin, das Vorliegen sozialer Anpassungsschwierigkeiten i. S. der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) sei nicht nachgewiesen. Weder besondere Förderung noch ein Integrationshelfer seien erforderlich. Das Widerspruchsverfahren blieb gemäß Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 24. Mai 2016 erfolglos.

Der Kläger hat am 22. Juni 2016 Klage erhoben. Ergänzend zum Krankheitsbild des Asperger-Syndroms hat er ausgeführt, er leide an Depressionen, die ärztlich behandelt würden. Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat ärztliche Befundberichte eingeholt. Die Hausarztpraxis Dr. K. u. a. hat mitgeteilt, hinsichtlich des Asperger-Syndroms habe es bei der letzten Vorstellung keine Befundänderung gegeben, im Übrigen sei der Kläger aktuell beschwerdefrei. Der Klinikdirektor Dr. L. von der J.-K.-Klinik, Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie, hat über eine seit Juli 2016 durchgeführte Mitbehandlung berichtet. Anamnestisch hat er mitgeteilt, zunächst sei Autismus bei dem Sohn des Klägers diagnostiziert worden. Im Rahmen eines Elterngesprächs im Jahr 2011 oder 2012 seien dem Kläger erstmals Gedanken gekommen, dass er selbst auch betroffen sein könnte. Auch seitens der Klinik hat sich die Bewertung des Störungsbildes des Klägers als Autismus-Spektrum-Störung mit deutlicher Einschränkung im Bereich Kommunikation und soziale Interaktion dargestellt. Hiervon seien alle Lebensbereiche des Klägers betroffen. Dr. L. hat die Durchführung einer spezifischen Therapie in einem Autismus-Therapiezentrum empfohlen. Außerdem bestehe eine mittelgradige depressive Episode.

Aufgrund dieses Berichts hat der Beklagte unter dem 22. März 2017 ein Teilanerkenntnis des Inhalts abgegeben, den GdB des Klägers ab dem 23. Februar 2016 mit 30 anzunehmen. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger angenommen, den Rechtsstreit aber fortgeführt. Der Beklagte hat hierzu unter dem 19. Juni 2019 einen Ausführungsbescheid erteilt.

Das SG Oldenburg hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. M.. In seinem unter dem 5. Februar 2018 erstatteten Gutachten hat de...

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