Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer in den ersten drei Monaten des Aufenthalts. Zuzug zum inländischen Ehegatten. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
Ausländer, die zu ihren deutschen Ehegatten in die Bundesrepublik Deutschland ziehen, sind von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auch für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts nicht ausgenommen. Sie unterfallen nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. Juni 2010 und der Bescheid des Beklagten vom 11. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2008 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld II auch für die Zeit vom 3. Januar bis zum 21. März 2008 zu zahlen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) II für die Zeit vom 3. Januar bis zum 21. März 2008. Streitig ist, ob er für die ersten drei Monate seines Aufenthalts in der Bundesrepublik von der Leistungsberechtigung ausgenommen ist.
Der 1986 geborene Kläger ist kasachischer Staatsangehöriger. Am 30. Juni 2007 heiratete er seine jetzige Ehefrau, die deutsche Staatsangehörige ist und seit dem Jahr 1995 in der Bundesrepublik lebt. Der Kläger erhielt am 13. Dezember 2007 ein Visum zur Einreise in das Bundesgebiet wegen Familienzusammenführung, Erwerbstätigkeit wurde gestattet. Am 21. Dezember 2007 reiste er in die Bundesrepublik ein und beantragte am 3. Januar 2008 die Zahlung von Alg II. Seine Ehefrau hatte am 1. September 2007 eine Berufsausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie aufgenommen, der monatliche Nettoverdienst betrug 514,08 EUR. Die monatliche Miete betrug 409,89 EUR, der Abschlag für Gas lag monatlich bei 86 EUR. Am 7. Februar 2008 erhielt der Kläger eine bis zum 7. Februar 2009 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), Erwerbstätigkeit war gestattet. Mit Bescheid vom 11. Februar 2008 lehnte der Beklagte die Zahlung von Alg II ab, weil Ausländer in den ersten drei Monaten gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen seien. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 13. März 2008). Mit Bescheid vom 3. April 2008 bewilligte der Beklagte Leistungen ab dem 22. März 2008, und zwar für den Monat März 2008 in Höhe von 114,33 EUR und beginnend ab dem 1. April 2008 in Höhe von 586,76 EUR monatlich.
Der Kläger hat am 14. April 2008 vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt: Es sei zweifelhaft, dass der Gesetzgeber Ausländer, die wegen Familienzusammenführung eine Aufenthaltserlaubnis erhielten, in den Leistungsausschluss habe aufnehmen wollen. Denn ausweislich der Gesetzesbegründung seien von dem Leistungsausschluss betroffen vor allem Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit - von dem dreimonatigen voraussetzungslosen Aufenthaltsrecht - Gebrauch machten. Verständlich werde die Norm nur, wenn ausschließlich der dem Aufenthalt des Ausländers zugrunde liegende Aufenthaltstitel als Bezugspunkt des Leistungsausschlusses gewählt werde. Der Aufenthaltserlaubnis des Klägers liege die grundgesetzliche Ausstrahlung des Art 6 Grundgesetz (GG) zugrunde.
Das SG ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 8. Juni 2010 abgewiesen: Eine Beschränkung der Ausschlussregelung nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II auf bestimmte Personengruppen oder auf Angehörige bestimmter Staaten sei weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus der einschlägigen Rechtsprechung ersichtlich. Eine Beschränkung könne auch nicht im Wege der Auslegung oder der Analogie angenommen werden, weil es insoweit bereits an einer auslegungsfähigen unklaren Gesetzesformulierung bzw an einer ausfüllungsbedürftigen und -fähigen Regelungslücke fehle.
Dagegen richtet sich die noch im selben Monat eingelegte Berufung, mit der der Kläger an seiner Rechtsauffassung festhält. Er unterstreicht, dass er einzig zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft eingereist sei. Unter Beachtung des Schutzes der Ehe durch Art 6 GG sei eine einschränkende Auslegung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II notwendig.
Der Kläger beantragt, 1. den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 8. Juni 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 11. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2008 aufzuheben, 2. den Beklagten zu verurteilen, ihm auch für die Zeit vom 3. Januar bis zum 21. März 2008 Alg II zu zahlen.
Der Beklagte verteidigt die angefochtenen Entscheidungen und beantragt, die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 8. Juni 2010 zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sic...