Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenversicherung. Sozialversicherungspflicht. gastspielverpflichteter Künstler am Staatstheater. Fiktion einer fortbestehenden Beschäftigung. Erfordernis des Arbeits- und Fortsetzungswillens von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei kurzen Unterbrechungen. Dispositionsbefugnis des Arbeitgebers. Rechtswidrigkeit einer Beitragsnacherhebung
Leitsatz (amtlich)
Die Fiktion einer fortbestehenden Beschäftigung nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 Satz 1 SGB IV hat lediglich die rechtliche Fortdauer des Beschäftigungsverhältnisses, nicht aber eine fortbestehende kontinuierliche Verfügungsmacht des Arbeitgebers über die Arbeitskraft des Arbeitnehmers namentlich im Sinne einer kurzfristig realisierbaren Dienstbereitschaft zur Voraussetzung.
Orientierungssatz
1. Eine (in Vollzug gesetzte) versicherungspflichtige Beschäftigung wird auch durch Unterbrechungen der tatsächlichen Dienstleistung von verhältnismäßig kurzer Dauer - sei es infolge fehlender Dienstbereitschaft des Arbeitnehmers, sei es infolge fehlender Bereitschaft des Arbeitgebers, die angebotene Dienstleistung anzunehmen - nicht berührt, sofern nur beide Seiten den grundsätzlichen Arbeits- und Fortsetzungswillen haben (vgl BSG vom 31.8.1976 - 12/3/12 RK 20/74 = SozR 2200 § 1227 Nr 4).
2. Hat ein Arbeitgeber, wie im vorliegenden Zusammenhang das Staatstheater, in den von ihm vorformulierten Arbeitsverträgen Klauseln vorgesehen, die ein verständiger Arbeitnehmer als Einräumung einer Dispositionsbefugnis im erläuterten Sinne verstehen muss, dann kann er sich im Prozess nicht darauf berufen, dass er nach seinem subjektiven inneren Willen nicht die Einräumung einer solchen Rechtsmacht angestrebt habe.
3. Die Nacherhebung von Beiträgen ist rechtswidrig, wenn und soweit der Beitragsschuldner gleichzeitig zugunsten derselben Krankenkasse aufgrund desselben Beschäftigungsverhältnisses und bezogen auf denselben Beitragszeitraum Erstattungsansprüche hat. Einer solchen Geltendmachung steht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (dolo facit, qui petit, quod statim redditurus est) entgegen (vgl BSG vom 1.3.1963 - 2 RU 152/60 = BSGE 18, 293 = SozR Nr 2 zu § 839 BGB).
Nachgehend
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 16. November 2015 wird geändert.
Der Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 2006 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 28. Juni 2007 und des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2007 wird aufgehoben, soweit Sozialversicherungsbeiträge aufgrund
a) einer Tätigkeit der Beigeladenen zu 6. (BA.),
b) einer Tätigkeit der Beigeladenen zu 7. (BB.),
c) einer Tätigkeit des Beigeladenen zu 23. (BC.),
d) einer Tätigkeit des Beigeladenen zu 31. (BD.),
e) einer Tätigkeit des Beigeladenen zu 40. (BE.).
erhoben worden sind.
Der Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 2006 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 28. Juni 2007 und des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2007 wird ferner insoweit aufgehoben, soweit aufgrund
a) der Tätigkeit des Beigeladenen zu 1. im Zeitraum 16. August bis 31. Dezember 2003 Sozialversicherungsbeiträge nach einer höheren Entgeltdifferenz als 3.183,63 € festgesetzt worden sind,
b) der Tätigkeit der Beigeladenen zu 3. im Zeitraum 2. November bis 31. Dezember 2004 Sozialversicherungsbeiträge bezogen auf die Kranken- und Pflegeversicherung nach einer höheren Entgeltdifferenz als 1.236,66 € festgesetzt worden sind,
c) der Tätigkeit des Beigeladenen zu 5. im Zeitraum 1. Januar bis 30. Juni 2004 Sozialversicherungsbeiträge nach einer höheren Entgeltdifferenz als insgesamt 9.834,40 € festgesetzt worden sind,
d) der Tätigkeit des Beigeladenen zu 8. im Zeitraum 11. Oktober bis 31. Dezember 2004 Sozialversicherungsbeiträge nach höheren Entgeltdifferenzen als - bezogen auf die Kranken- und Pflegeversicherung - 581,25 € und - bezogen auf die Renten- und Arbeitslosenversicherung - 858,33 € festgesetzt worden sind,
e) der Tätigkeit des Beigeladenen zu 9. im Zeitraum 23. September bis 31. Dezember 2004 Beiträge zur Krankenversicherung nacherhoben worden sind und soweit Beiträge zur Pflegeversicherung nach einer höheren Entgeltdifferenz als 3.264,35 € festgesetzt worden sind,
f) der Tätigkeit des Beigeladenen zu 10. im Zeitraum 16. August bis 31. Dezember 2003 Sozialversicherungsbeiträge nach einer höheren Entgeltdifferenz als insgesamt 2.671,45 € festgesetzt worden sind.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des vorliegenden abgetrennten Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Das klagende Staatstheater, das in der Rechtsform einer GmbH geführt wird und ein sog. Mehrspartentheater darstellt, wendet sich gegen einen Bescheid des beklagten Rentenversicherungsträgers vom 5. Oktober 2006, mit dem es auf der Grundlage einer nach § 28p Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) durchgeführten Betriebsprüfung zur Nachentrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 228.102,85 € bezoge...