Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenbehandlung (hier: Begehren einer beidseitigen operativen Haustraffung der Oberarme nach vorangegangener bariatrischer Operation). Begriff der behandlungsbedürftigen Krankheit. objektiv als entstellende Normabweichung zu qualifizierende körperliche Anomalie (hier: durch alltägliche Bekleidung nicht zu kaschierendes stark asymmetrisches Erscheinungsbild der Arme). Begriff der Entstellung. Bemerkbarkeit bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen mit regelmäßiger Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen. strenger Maßstab
Orientierungssatz
1. Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung setzt nach § 27 Abs 1 S 1 SGB 5 eine behandlungsbedürftige Krankheit voraus. Ein Anspruch auf Krankenbehandlung in Form eines Eingriffs in intakte, nicht in ihrer Funktion beeinträchtigte Organsysteme kommt als Ausnahmefall nur dann in Betracht, wenn die Abweichung entstellend wirkt.
2. Ausnahmsweise besteht eine Operationsindikation ua für eine Oberarmstraffung in Form einer sog Entstellung, wenn das Erscheinungsbild der Oberarme entstellend im Rechtssinn wirkt. Dabei ist auf den bekleideten Zustand abzustellen. Eine Entstellung liegt erst dann vor, wenn eine körperliche Auffälligkeit so ausgeprägt ist, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (Anschluss an BSG vom 8.3.2016 - B 1 KR 35/15 R = SozR 4-2500 § 27 Nr 28).
3. Erscheinen Ober- und Unterarme derart massiv asymmetrisch, weil im Bereich der Oberarme durch Fettablagerungen die Kleidung sehr eng anliegt, während sie sich im Bereich der Unterarme wie eine Fahne im Wind bewegt, so wird der Betroffene bereits in alltäglichen Situationen zum Objekt des Interesses anderer.
4. Bei der Beurteilung der Entstellung sind strenge Maßstäbe anzulegen. Erst wenn die Grenze zur Entstellung überschritten ist, besteht eine Leistungspflicht der Krankenkasse zur Resektion des Hautfettgewebeüberschusses.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 7. Februar 2018 und der Bescheid der Beklagten vom 5. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2013 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin mit einer beiderseitigen Oberarmstraffung zu versorgen.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für eine beidseitige Oberarmstraffung.
Die im Jahre 1958 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet an einer Cutis-laxa mit mäßiggradigem Hautüberschuss im Bereich der Oberarme bei Zustand nach Gewichtsreduktion von 45 bis 50 kg bei erfolgter Schlauchmagenoperation.
Am 23. März 2011 beantragte die Klägerin durch Vorlage eines Schreibens der behandelnden Ärzte des J. Hospitals die Kostenübernahme für eine Oberarmstraffung. Darin wurde auf die durchgeführte Schlauchmagenoperation verwiesen. Seither habe die Klägerin 50 kg an Gewicht verloren und halte dieses seit Monaten stabil. Es zeige sich ein Fettverteilungstyp mit massivstem Hautüberschuss beider Oberarme. Dies beeinträchtige die Klägerin im Bewegungsausmaß und in der Hygiene. Die Beklagte beauftragte daraufhin den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der sozialmedizinischen Begutachtung. Dieser führte am 1. April 2011 aus „Nein, Kosmetik.“
Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 5. April 2011 ab. Es handele sich um eine kosmetische Indikation.
Die Klägerin erhob Widerspruch und trug vor, dass so viel Haut da sei, die durchaus scheuere. Da sie Briefzustellerin sei, müsse sie auch bei Hitze im Freien arbeiten und durch das Schwitzen scheuere die Haut unter den Armen. Sie habe sogar schon schmerzhafte Abszesse gehabt. Sie müsse reguläre Dienstkleidung tragen und bekomme keine Extrakleidung für dicke Oberarme. Früher habe sie sehr große Dienstkleidung gehabt, weil sie am ganzen Körper dick gewesen sei, nun trage sie sechs bis sieben Kleidergrößen kleiner, aber so seien natürlich auch die Arme der Kleidung entsprechend kleiner.
Mit Aktenlage-Gutachten vom 7. Dezember 2011 und Untersuchungsgutachten vom 16. Januar 2013 führte der MDK aus, dass bei der Klägerin keine Krankheit im Sinne des SGB V vorliege. Die Klägerin werde nicht in ihren Körperfunktionen beeinträchtigt und es liege auch keine Entstellung vor. Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin, die spezielle Berufskleidung tragen müsse, eine Funktionsbeeinträchtigung habe. Vor der abschließenden Klärung müsse jedoch eine weiterführende Gewichtsreduktion angestrebt werden. Bei einem derzeitigen BMI von 38 liege nach wie vor eine behandlungsbedürftige Form der Adipositas vor. Es solle zunächst eine weitergehende Reduktion auf einen BMI von unter 30 angestrebt werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt würden die Vorausse...