Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Versorgung mit Cannabis nach § 31 Abs 6 SGB 5. kein Anspruch bei vorhandenen Therapiealternativen
Orientierungssatz
Das Ausschöpfen verfügbarer Therapiealternativen ist rechtliche Voraussetzung der Leistungsgewährung nach § 31 Abs 6 SGB 5.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 9. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Kostenübernahmen sowie Kostenerstattung für eine Versorgung mit Medizinal-Cannabisprodukten.
Der im Jahr 1979 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 22. Mai 2017 bei der Beklagten die „Übernahme von medizinischen Cannabis-Produkten“. Zur Begründung verwies er auf eine ADHS-Erkrankung und machte unter anderem geltend, der Einsatz von Medikinet Adult 20 und 10 mg zur Verbesserung seiner Lebensqualität sei nicht erfolgreich und mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden gewesen.
Die Beklagte informierte den Kläger mit Schreiben vom 29. Mai 2017 über die Anhörung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2017 ab. Die medizinischen Voraussetzungen der Cannabis-Bewilligung lägen nach Feststellung des MDK nicht vor.
Mit seiner hiergegen am 18. September 2017 vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhobenen Klage hat der Kläger ergänzend geltend gemacht, es stehe ihm keine alternative Behandlungsmöglichkeit für das Krankheitsbild ADHS mit schweren Depressionen zur Verfügung. Die Behandlung mit Medikinet sei gescheitert, da der Kläger unter Anwendung dieses Medikaments Suizidgedanken entwickelt habe. Auch die zwischenzeitlich vorgeschlagene Behandlung mit Strattera sei keine Alternative; unter Anwendung dieses Medikaments komme es ebenfalls zu suizidalen Verhaltensweisen. Erfolgreich sei nur die Behandlung mit Cannabisblüten, die der Kläger bislang gezwungenermaßen als Selbsttherapie durchführe. Unter der Behandlung mit Cannabis komme es bei ihm praktisch zu keinerlei Nebenwirkungen.
Das SG hat zur weiteren medizinischen Sachaufklärung die Akten der Agentur für Arbeit J. sowie der Deutschen Rentenversicherung K. auszugsweise beigezogen (Befundberichte von Dr. L. vom 19. April 2018, Dr. M. vom 18. April 2018, und Dr. N. vom 4. Mai 2018) und ein Gutachten von Dr. O., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 25. Dezember 2018 eingeholt. Der Sachverständige hat die medizinische Indikation für eine Cannabis-Versorgung als beim Kläger nicht gegeben angesehen.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 9. Oktober 2019 abgewiesen und zur Begründung im Einzelnen ausgeführt, dass die Voraussetzungen der §§ 27 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V), 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V nicht vorlägen.
Zum einen sei eine ärztliche Verordnung der Beklagten nicht vorgelegt worden, insbesondere fehle ein Betäubungsmittelrezept und damit insbesondere auch die nach der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung erforderlichen Angaben (siehe § 9 BtMVV). Zum zweiten sei der gerichtlich beauftragte Sachverständige in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger ein langjähriges, chronisches Abhängigkeitssyndrom von Cannabis vorliege und zudem eine krankheitswertige Störung der Persönlichkeit. Die chronische Abhängigkeit von Cannabis bewirke ein starkes Verlangen nach täglichem Cannabiskonsum unter Vernachlässigung anderer Interessen und Bedürfnisse, Gewöhnung an die psychotropen Wirkungen des Cannabis und das Auftreten vorwiegend psychischer Entzugssymptome bei vorübergehender Karenz. Indizierte Therapien und Behandlungen hätten nach der Einschätzung des Sachverständigen bislang lediglich im Hinblick auf die wahrscheinlich vorliegende Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung/ADHS in Form einer Pharmakotherapie mit richtlinienkonformen Medikamenten im ambulanten Behandlungsrahmen stattgefunden. Darüber hinaus stünden nach Auffassung des Sachverständigen aber noch zahlreiche weitere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. So bestehe vor allem die Option, eine richtlinienkonforme Verhaltenspsychotherapie wahrzunehmen, gegebenenfalls ergänzt durch ein sogenanntes ADHS-Coaching. Im Hinblick auf das wahrscheinlich vorliegende ADHS stünden nach der Beurteilung durch den Sachverständigen auch bislang nicht genutzte pharmakologische Ansätze zur Verfügung, die idealerweise im Rahmen einer ausführlichen Diagnostik und Therapiefindung in der Ambulanz eines insoweit spezialisierten universitären Zentrums eruiert werden könnten. Darüber hinaus stehe im Hinblick auf die Cannabis-Abhängigkeit das gesamte Spektrum der suchtspezifischen Behandlungsoptionen zur Verfügung, beginnend mit einer Suchtberatung ...