Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 4302. obstruktive Atemwegserkrankung. Krankheitsbild. obstruktive Ventilationsstörung. haftungsbegründende Kausalität. Nachweis. Theorie der wesentlichen Bedingung. Bitumen-Exposition. aktueller medizinischer Erkenntnisstand. Nichtvorliegen epidemiologischer Daten. Dachdecker
Leitsatz (amtlich)
Es liegen gegenwärtig keine wissenschaftlichen Erkenntnisse dafür vor, dass die berufliche Einwirkung von Bitumen zu obstruktiven Atemwegserkrankungen führen kann.
Orientierungssatz
Der Begriff „obstruktive Atemwegserkrankung“ ist eine Sammelbezeichnung für Krankheiten des broncho-pulmonalen Systems und umfasst verschiedene akute und chronische Krankheitsbilder, zu denen insbesondere ein Asthma bronchiale sowie eine COPD zählen. Dabei kann der Vollbeweis einer obstruktiven Atemwegserkrankung ua durch den Nachweis einer obstruktiven Ventilationsstörung geführt werden.
Normenkette
SGB VII § 9 Abs. 1 Sätze 1-2; RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1; SGG § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 5. Februar 2016 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 4302 der Anl 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) - „Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“ (im Folgenden: BK Nr 4302).
Der 1951 geborene Kläger hat eine 3-jährige Ausbildung zum Dachdecker absolviert und war im Anschluss von April 1969 bis Februar 1986 - mit Unterbrechungen durch den Wehrdienst, eine Ausbildung an der Meisterschule und kurze Zeiten der Arbeitslosigkeit - als Dachdeckergeselle beschäftigt. Seit April 1986 ist er als selbstständiger Dachdecker tätig und übt seit 1998 außerdem eine Tätigkeit als Betriebsleiter eines Dachdeckerbetriebes aus.
Unter dem 29. Oktober 2008 zeigte der Lungenfacharzt Dr. F. dem bremischen Landesgewerbearzt eine beim Kläger bestehende chronisch-obstruktive Ventilationsstörung mit Atemproblemen, Luftnot und Husten an. Die Beschwerden seien erstmalig 1996 aufgetreten. Mit dem Untersuchungsergebnis könnten eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und eine Hypoxämie im ursächlichen Zusammenhang stehen. Als für die Entstehung der Erkrankung ursächlich werde die Tätigkeit als Dachdecker mit Exposition gegenüber inhalativen Noxen (zB früheres Kochen von Bitumen in Kesseln) angesehen.
Die Beklagte leitete aufgrund der an sie weitergeleiteten ärztlichen Anzeige zunächst keine Ermittlungen ein und teilte dem Kläger dazu mit, dass er als Unternehmer keine eigene Unternehmerversicherung habe und daher keine versicherte Person sei (Schreiben vom 6. Mai 2010). Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch wandte der Kläger ein, dass die Erkrankung auf die Arbeit mit Flüssigteer zurückzuführen sei. Diese Art von Flachdachbearbeitung habe er nur während seiner Gesellenzeit als angestellter Dachdecker ausgeführt. Seit seiner Selbstständigkeit werde gar nicht mehr mit dem Produkt Flüssigteer gearbeitet (Schreiben vom 18. Mai 2010).
Die Beklagte zog ärztliche Befundunterlagen bei und veranlasste eine arbeitsmedizinische Untersuchung des Klägers, bei der der Kläger von Belastungsatembeschwerden (Belastungsdyspnoe, „Pfeifen“ mit mäßigem Husten, wenig weißlicher Auswurf) ab dem Jahr 2000 berichtete und eine obstruktive Atemwegserkrankung bestätigt wurde (Stellungnahme Dr. G. vom 18. Oktober 2010 und arbeitsmedizinischer Befundbericht Dr. H. vom 8. September 2010).
Daraufhin lehnte die Beklagte sinngemäß die Anerkennung der Erkrankung als BK ab. Es fehle der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Ende der Exposition durch Flüssigteer (März 1986) und dem Beginn der Beschwerden im Jahr 2000. Das Vorliegen einer BK sei damit nicht wahrscheinlich; zudem habe kein objektiver Zwang zur Aufgabe der schädigenden Tätigkeit bestanden (Bescheid vom 2. Dezember 2010).
Zur Begründung seines dagegen gerichteten Widerspruchs führte der Kläger aus, dass BKen sich langsam und schleichend entwickelten und Atembeschwerden erstmals bereits 1994 festgestellt worden seien.
Nach Einholung weiterer Befundunterlagen, einer Auskunft des privaten Krankenversicherers des Klägers und einer Stellungnahme ihres Präventionsdienstes vom 25. September 2012 zur beruflichen Exposition des Klägers gegenüber möglichen Gefahrstoffen veranlasste die Beklagte eine Begutachtung durch Prof. Dr. I., der zur Einschätzung gelangte, dass eine Atemwegserkrankung des Klägers mit ausgeprägter obstruktiver Ventilationsstörung mit großer Wahrscheinlichkeit durch toxisch wirkende Stoffe verursacht worden sei (Gutachten vom 20. November 2012 mit ergänzender Stellungnahme vom 9. April 2...