Entscheidungsstichwort (Thema)

Eine Vernachlässigung von Kindern und auch eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge können nicht als Gewalttat im Sinne des OEG angesehen werden

 

Orientierungssatz

1. Anspruch auf Opferentschädigung hat nach § 1 OEG, wer Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs geworden ist. Nach dem erleichterten Beweismaßstab des § 15 KOVVfG genügt von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten eine, welche den übrigen gegenüber ein gewisses, kein deutliches Übergewicht zukommt.

2. Ist angesichts verschiedener vollkommen unterschiedlicher Geschehensschilderungen benannter Zeugen die Beweiserleichterungsregelung des § 15 KOVVfG nicht anwendbar, so bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs i. S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG des Vollbeweises.

3. Die Vernachlässigung von Kindern und auch eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge können nicht als Gewalttat i. S. des OEG angesehen werden (BSG Beschluss vom 10. 5. 2017, B 9 V 75/16 B). Erforderlich ist eine körperliche Einwirkung; eine allein intellektuell vermittelte pzw. psychische Einwirkung genügt nicht.

4. Die Vernachlässigung des Kindes durch die Eltern in Gestalt unzureichender Ernährung und Pflege stellt keinen vorsätzlichen tätlichen Angriff i. S. des § 1 OEG dar, wenn die Eltern kein Bewusstsein für die dadurch erfolgte gesundheitliche Schädigung des Kindes hatten und mit der Verantwortung für das Kind überfordert waren (BSG Beschluss vom 23. 3. 2015, B 9 V 48/14 B).

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 11. Juni 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf höhere Versorgungsleistungen als nach einem GdS von 30 gemäß § 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die 1983 geborene Klägerin beantragte im März 2010 bei der Beklagten Beschädigtenversorgung. Zum Tatvorgang gab sie an, einerseits im Alter von 10 Jahren Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen ihr unbekannten Täter geworden zu sein. Andererseits habe sie ab ca. 12 Jahren mit ihren drei jüngeren Halbgeschwistern bei ihrem Stiefvater gelebt und sei dort andauernder körperlicher Gewalt, tätlichen Verfolgungsjagden durch die Wohnung und täglichen verbalen Abwertungen ausgesetzt gewesen. Wiederholt seien durch den Stiefvater Androhungen wie Heimunterbringung, Rauswurf, etc. ausgesprochen worden, so dass eine ständige Unsicherheit bestanden habe. Ihr Stiefvater sei an den Kindern desinteressiert und mit ihnen überfordert gewesen, so dass es zu einer extremen Vernachlässigung aller Kinder und ihrer persönlichen Überlastung gekommen sei, weil sie ihre jüngeren Geschwister habe betreuen und den Haushalt führen müssen. Gelitten habe sie auch unter anhaltender psychischer Gewalt sowie Ablehnung ihrer Person als Familienzugehörige, unter der Abwesenheit der Mutter durch deren Auszug sowie Einbeziehung in deren Bedrohung durch einen Stalker. Durch die Taten seien eine Borderline-Störung, eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende Depressionen, selbstverletzendes Verhalten, Alpträume und Dissoziation entstanden.

Die Beklagte zog Berichte der behandelnden Ärzte der Klägerin, eine Auskunft der Krankenkasse der Klägerin und Unterlagen vom Jugendamt bei. Darüber hinaus holte die Beklagte Aussagen einer früheren Schulfreundin der Klägerin sowie deren Eltern zum Geschehen im Haushalt der Klägerin ein. Außerdem ersuchte die Beklagte den Stiefvater der Klägerin, Heinz I., schriftlich um Stellungnahme zu den Tatvorwürfen. Dieser führte unter dem 9. Mai 2011 aus, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht nachvollziehen zu können, er bestreite diese entschieden.

Unter dem 16. November 2010 beschrieb die Klägerin den Tatablauf zum sexuellen Übergriff im Jahr 1993 wie folgt: Dieser habe sich in J., am K. (L.) auf dem FKK-Gelände zugetragen. An jenem Tag habe ihre Mutter in der Sonne geschlafen. Ihre Brüder hätten im Sand gespielt, während sie zum See und ein paar Schritte am Strand entlanggegangen sei. Sie sei von einem älteren Herrn angesprochen worden. Dieser habe sich besorgt gezeigt, dass sie sich ohne genügend Sonnenschutz in der Sonne bewege. Er habe sie zu sich gerufen und ihr erklärt, dass er sie eincremen müsse, um einen Sonnenbrand zu verhindern. Er habe sie zunächst am Rücken und später am ganzen Körper eingecremt. Er habe sie auch zwischen den Beinen angefasst. Sie habe weglaufen wollen. Er habe sie zurückgehalten und gesagt, das müsse so sein, um sie vor der Sonne zu schützen. Rundherum seien andere Badegäste gewesen, niemand habe reagiert, was sie darin bestärkt habe, dass es wohl so sein müsse. Es sei ihr sehr unangenehm gewesen und sie sei mehr und mehr vor Angst erstarrt. Sie habe Blickkontakt zur Mutter gesucht, dabei festgestellt, dass diese ...

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