Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Nachteilsausgleiche. Merkzeichen "Bl". faktische Blindheit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" ("Blindheit") kommt es regelmäßig nicht darauf an, welche Ursachen der Störung des Sehvermögens zugrunde liegen oder ob das Sehorgan selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, wenn sie bereits das Erkennen-Können und nicht erst das Benennen-Können betreffen (Anschluss an BSG vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2). Mit diesem Verständnis ist es unvereinbar, die Fähigkeit des Erkennen-Könnens ausschließlich dem sog "Sehapparat" (Auge, Sehbahn, äußere Sehrinde) zuzuordnen und jenseits dessen allein die Funktion des Benennen-Könnens zu vermuten.

2. Ob dem Erfordernis, dass die visuelle Wahrnehmung für den Nachweis faktischer Blindheit bei generalisierten cerebralen Schäden deutlich stärker als andere Sinnesmodalitäten betroffen sein muss (so BSG, aaO), in jedem Fall zu folgen ist, oder ob dies im Einzelfall zu einer sachwidrigen Benachteiligung mehrfach schwerst (wahrnehmungs-)behinderter Menschen führen kann, bleibt offen.

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 24.6.2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" (Blindheit) festzustellen sind.

Der 1997 geborene Kläger ist seit seiner Geburt mehrfach behindert, u.a. durch ein Anfallsleiden, eine schwere Tetraspastik mit multiplen Kontrakturen, vor allem der Hüft- und Kniegelenke, sowie einer psychomotorischen Retardierung. Daneben besteht bei dem Kläger eine erhebliche Beeinträchtigung der Sehfunktion, deren Ursachen und deren Ausmaß im Einzelnen zwischen den Beteiligten streitig sind.

Mit Bescheid vom 31.7.1998 stellte der Beklagte - Versorgungsamt L. - erstmals das Vorliegen dieser Behinderungen und einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung), "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung), "H" (Hilflosigkeit), "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) sowie "Bl" ab dem 1.1.1998 wegen "Entwicklungsstörungen mit Koordinationsstörungen, hirnorganischen Anfällen bei frühkindlichem Hirnschaden" und "Blindheit" fest. Später (Bescheid v. 9.9.1998) erweiterte der Beklagte diese Feststellungen auf den Zeitraum seit der Geburt (8.11.1997) des Klägers.

In den Jahren ab 1999 überprüfte der Beklagte die bisherigen Feststellungen. In diesem Zusammenhang verzichtete der Vater des Klägers als dessen gesetzlicher Vertreter mit Schreiben vom 30.2.2000 sinngemäß auf die weitere Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" (sowie die weitere Zahlung von Blindengeld), weil er dem Kläger keine weiteren Untersuchungen mehr zumuten wolle. Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 19.2.2002 den Verzicht auf das Merkzeichen fest und löschte das Merkzeichen "Bl" im Mai 2002 aus dem Schwerbehindertenausweis des Klägers.

Im Juni 2006 beantragte der Kläger durch seinen gesetzlichen Vertreter erneut das Merkzeichen "Bl" (sowie die Gewährung von Landesblindengeld). Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht des Augenarztes M. vom 18.7.2006 ein und ließ diesen in einer Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes (ÄD; Dr. N.) vom 26.7.2006 auswerten. Mit Bescheid vom 31.7.2006 lehnte er daraufhin den Antrag auf Feststellung der Voraussetzungen für das streitige Merkzeichen ab. Die letzte augenärztliche Untersuchung vom 14.7.2006 habe zur Diagnose einer visuellen Agnosie (mangelnde Fähigkeit zur Wahrnehmung/"Verarbeitung" visueller Reize) geführt. Danach bestehe entsprechend den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) keine Blindheit. Hiergegen erhob der Kläger unter Bezug auf ergänzende Ausführungen des Augenarztes M. vom 6.9.2006 Widerspruch. Der Beklagte zog daraufhin weitere Befundunterlagen vom Kinderarzt Dr. O. bei, unter denen sich u.a. auch ein Arztbrief der neurologischen Abteilung des Krankenhauses P., Q., vom 7.11.2006 befand. Diese Unterlagen ließ der Beklagte erneut durch seinen ÄD (Dr. R., Stellungnahme v. 28.11.2006) auswerten. Ergänzend forderte der Beklagte Kernspintomographie-Aufnahmen über den Kläger vom S. Klinikum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, T., an und ließ diese von dem Radiologen Dr. U. (Bericht v. 29.1.2007) auswerten. Schließlich veranlasste der Beklagte eine Begutachtung des Klägers durch die Augenärztin Dr. V., T.. In ihrem Gutachten vom 4.5.2007 gelangte die Gutachterin nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 17.4.2007 zu der Beurteilung, dass sich trotz weitestgehend normalem morphologischem Befund bei dem Kläger nur rudimentäre Reaktionen auf Licht, gar keine...

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