Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Nachforderung wegen unzulässiger Verordnung von Cannabisblüten mangels Genehmigung der Krankenkasse. Festsetzungsfrist. keine Anwendung der Differenzkostenregelung des § 106b Abs 2a SGB 5. Entbehrlichkeit eines Vorverfahrens
Leitsatz (amtlich)
1. Gegenüber einem Vertragsarzt, der seiner Patientin Cannabisblüten zulasten der Krankenversicherung verordnet hat, ohne dass eine entsprechende Genehmigung der Krankenkasse vorlag, kann die Prüfungsstelle eine Nachforderung wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise festsetzen.
2. Die Höhe der Nachforderung ist in diesem Fall einer unzulässigen Verordnung auch nach Inkrafttreten des§ 106b Abs 2a SGB V nicht auf die Differenz zwischen verordneter und wirtschaftlicher Leistung beschränkt.
Orientierungssatz
1. Zum Einhalten der Frist des § 106 Abs 3 S 3 SGB 5.
2. Zur Entbehrlichkeit eines Vorverfahrens gemäß § 78 Abs 1 S 2 Nr 1 SGG iVm § 106c Abs 3 S 6 SGB 5.
Normenkette
SGB V § 106 Abs. 1 Fassung: 2015-07-16, Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Fassung: 2015-07-16, Abs. 3 S. 1 Fassung: 2015-07-16, S. 2 Fassung: 2015-07-16, S. 3 Fassung: 2019-05-06, § 106b Abs. 1 S. 1 Fassung: 2015-07-16, S. 2 Fassung: 2015-07-16, S. 4 Fassung: 2015-07-16, Abs. 2 Fassung: 2015-07-16, Abs. 2a S. 1 Fassung: 2019-05-06, S. 2 Fassung: 2019-05-06, S. 3 Fassung: 2019-05-06, § 106c Abs. 3 S. 6 Fassung: 2015-07-16, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6, § 82 Abs. 1, § 73 Abs. 2 S. 1 Nr. 7, § 31 Abs. 6 S. 2, § 12 Abs. 1; BMV-Ä § 48; AMRL §§ 2, 11 Abs. 1; SGB I § 45 Abs. 2; BGB § 204 Abs. 1 Nr. 12 Hs. 1; SGG § 78 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
SG Hannover (Gerichtsbescheid vom 24.10.2023; Aktenzeichen S 20 KA 35/23) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Hannover vom 24. Oktober 2023 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 6.920,61 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Im Streit steht die Festsetzung einer Nachforderung wegen Verordnung unverarbeiteter Cannabisblüten im Quartal I/2020.
In diesem Zeitraum war der Kläger als Facharzt für Allgemeinmedizin in L. niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk der zu 1. beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) Niedersachsen zugelassen. Er verordnete unter dem 17. Januar 2020, 27. Februar 2020 und 18. März 2020 der bei der zu 2. beigeladenen Krankenkasse (KK) versicherten JN (im Folgenden: die Versicherte) jeweils unverarbeitete Cannabisblüten (Cannabis Flos Bedrocan) aufgrund der Diagnose Cluster-Kopfschmerz (ICD-10: G 44.0 ). Die Versicherte war im Jahr 2019 von einem anderen Vertragsarzt behandelt worden, der Cannabisblüten verordnet hatte. Eine dieser Verordnungen legte die Versicherte dem Kläger vor, nachdem sie in dessen hausärztliche Behandlung gewechselt war. Daraufhin verordnete dieser Cannabisblüten weiter. Eine Genehmigung der KK lag weder im Jahr 2019 noch im Zeitpunkt der vorliegend streitigen Verordnungen des Klägers vor. Die Versicherte hatte sich in den Jahren 2019 und 2020 anlässlich einer Behandlung mit Cannabisblüten nicht an die KK gewandt.
Der Kläger teilte der KK unter dem 9. April 2021 mit, dass bei der Versicherten ausschließlich die Behandlung mit Cannabisblüten zu einer Beschwerdefreiheit geführt habe. Eine Medikation mit Metamizol, ASS, NSAR, Morphin subcutan sowie eine Sauerstofftherapie seien ohne Erfolg geblieben, eine Medikation mit Imigran habe zu schweren Nebenwirkungen geführt, die stationär behandelt worden seien. Die KK lehnte den Antrag auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 16. April 2021 gegenüber der Versicherten ab und informierte den Kläger taggleich. Sie verwies auf eine Therapie mit einem Fertigarzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon. Nach telefonischer Rücksprache und schriftlichem Antrag vom 21. April 2021 genehmigte die KK eine Behandlung mit Dronabinol-Tropfen bis zum 31. März 2022 mit Bescheid vom 21. April 2021 gegenüber der Versicherten. Einen weiteren Antrag auf Übernahme der Kosten für Cannabinoide lehnte die KK unter dem 5. Mai 2022 ab. Darin wies sie auf alternative Therapien wie zB Entspannungstechniken, Konsultation der Kopfschmerzklinik in Kiel und Physiotherapie hin.
Unter dem 13. Mai 2022 - Eingang bei der Beklagten am 25. Mai 2022 - beantragte die KK bei der Beklagten die Prüfung der Feststellung eines sonstigen Schadens gemäß § 48 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) und der Prüfvereinbarung gemäߧ 106 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) iHv 6.920,61 Euro wegen der im Quartal I/2020 ohne Genehmigung verordneten Cannabisblüten. Von den Verordnungen erhielt die KK durch die Arzneimittelabrechnung Kenntnis. Der Betrag setzt sich aus den Kosten für die Cannabisblüten und einer Gebühr für Betäubungsmittel ≪BTM≫ (4,26 Euro) abzüglich der Rabatte vom Apothekenabgabepreis zusammen (Verordnung vom 17. Januar und ...