Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Hilfsmittel. Versorgung mit Blindenführhund auch bei Kombination aus Blindheit und Gehbehinderung. Behinderungsausgleich. Mobilität. Nahbereich. Gebrauchsvorteile. Rollator. Blindenlangstock

 

Orientierungssatz

Die Versorgung mit einem Blindenführhund ist im Falle einer blinden, an Multipler Sklerose leidenden Versicherten zum mittelbaren Behinderungsausgleich geeignet, angemessen und erforderlich, wenn die Versorgung mit einem Langstock und erhaltenem Mobilitätstraining angesichts der Kombination aus Blindheit und Gehbehinderung nicht ausreichend ist, um die Mobilität und die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums zu gewährleisten.

 

Normenkette

SGB V § 33 Abs. 1 S. 1, § 70

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 1. September 2015 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund.

Die am 1. März 1944 geborene Klägerin leidet an einem ausgeprägtem Glaukom, einer multiplen Sklerose, chronischer Polyarthritis, Osteoporose, Harninkontinenz. Nach den gesetzlichen Vorschriften ist sie blind, ihre Sehschärfe ist massiv herabgesetzt, das Gesichtsfeld konzentrisch eingeengt. Die Klägerin ist mit einem Langstock versorgt. Im  Juni 2009  erhielt sie ein 40-stündiges Mobilitätstraining mit dem Langstock und in der Zeit vom 15. März bis 10. Mai 2016 20 Unterrichtsstunden.

Der Facharzt für Augenheilkunde J. verordnete der Klägerin am 4. November 2011 einen Blindenführhund wegen ausgeprägtem Glaukom und AMD. Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 13. Dezember 2011 ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29. Dezember 2011 ab. Die Notwendigkeit der Verordnung von Hilfsmitteln ergäbe sich nicht allein aus der Diagnose. Der MDK habe bei seiner Beurteilung auch das Pflegegutachten vom 27. Mai 2009 berücksichtigt. Es sei nicht ersichtlich, welches Therapieziel durch die Verordnung eines Blindenführhundes erreicht werden solle. Es sei weiterhin nicht nachvollziehbar, dass durch den beantragten Blindenführhund ein wesentlicher Gebrauchsvorteil gegenüber der Basisversorgung erreicht werden könne. Die Klägerin nutze außerhalb der Wohnung einen Rollator oder den Elektrorollstuhl. Ferner sei ein Orientierungs- und Mobilitätstraining über 50 Stunden absolviert worden. Es könne anhand der vorliegenden Unterlagen nicht nachvollzogen werden, in welchem Ausmaß sie auch unter Berücksichtigung der zusätzlichen vorliegenden Erkrankungen mobil sein könnte. Aus medizinischer Sicht sei die Indikation für einen Blindenführhund nicht gegeben.

Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 5. Januar 2012 Widerspruch ein. Die Klägerin sei mobil, dies habe sie im Langstocktraining hinreichend bewiesen. Sie könne zwar ohne Blindenführhund nur langsam gehen, sei aber trotz aller Einschränkungen mobil. Der Blindenführhund bedeute eine wesentliche Verbesserung des Alltages. Zurzeit sei die Mobilität gehemmt. Sie müsse mit dem Langstock Wege ertasten, dürfe die Orientierung nie verlieren, Türen von Geschäften mühsam suchen oder an Ampeln die Ampelphase erraten. Ein Blindenführhund sei eine wesentliche Entlastung. Die selbstständige Mobilität sei für jeden Menschen wichtig und ein wertvolles Therapieziel auch in psychischer Hinsicht.

Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten des MDK vom 7. Februar 2012 ein und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2012 zurück. Der MDK habe die Ausführungen im ersten Gutachten bestätigt. Eine Kostenübernahme für einen Blindenhund könne nicht erfolgen.

Hiergegen hat die Klägerin am 13. Juli 2012 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Unbestritten sei die Klägerin körperlich und auch in ihrer Gehfähigkeit beeinträchtigt. Für längere Strecken stehe ihr ein Elektrodreirad zur Verfügung, das sie wegen der Sehverschlechterung nur noch auf Feldwegen nutzen könne, da eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr nicht mehr möglich sei. Zur eigenständigen Fortbewegung außer Haus ohne Fremdhilfe bestehe nur die Möglichkeit, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Die Kombination aus Gehbehinderung und Blindheit wirke sich im Falle der Klägerin beim Zufußgehen so massiv aus, weil sie wegen der spät erfolgten Erblindung beim Gehen mit dem Blindenlangstock viel Energie und Kraft benötige, dass sie die wegen der Gehbehinderung erforderliche Anstrengung nicht noch zusätzlich aufbringen könne. Es liege eine massive Überforderung vor. Schon für einen nur blinden Menschen sei die selbstständige Fortbewegung im Straßenverkehr unter Zuhilfenahme des Blindenlangstocks mit großen Schwierigkeiten verbunden, zumal wenn die Erblindung erst spät im Leben eintrete und der Betroffene in seinem Gehör und Tastvermögen nicht so sensibilisiert sei wie ein ...

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