Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. tätlicher Angriff. Stalking
Leitsatz (amtlich)
1. Schwere Belästigung oder Nachstellung (sog Stalking) kann in seiner Gesamtheit einen tätlichen Angriff iS von § 1 OEG darstellen. Dies ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn es auch zu direkten körperlichen Übergriffen kommt.
2. Anders als beim "Mobbing" wird beim "Stalking" in aller Regel die Schwelle zum kriminellen Unrecht deutlich überschritten. Dies gilt insbesondere für das "schwere Stalking", unter welches Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen von Opfern selbst oder Dritter, tatsächliche körperliche Angriffe und sexuelle Belästigungen fallen. Es wäre - unabhängig von strafrechtlicher Dogmatik - nicht sachgerecht, jedes einzelne Element für sich zu betrachten und nur die isoliert auf einzelne Tathandlungen zurückzuführenden Gesundheitsstörungen zu entschädigen. Es handelt sich jedenfalls nach natürlicher Betrachtungsweise und nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung um ein einheitliches Phänomen.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 28. Februar 2005 aufgehoben.
Die Beklagte wird unter Änderung ihrer Bescheide vom 8. November 2001 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 11. und 12. Juni 2002 verurteilt, bei dem Kläger als weitere Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz eine “posttraumatische Belastungsstörung„ anzuerkennen und diesem ab 1. November 1999 Versorgung nach einer MdE von 40 v. H. und ab 1. Dezember 2003 nach einer MdE von 30 v. H. zu gewähren.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG -) hat.
Im Dezember 1999 stellte der 1961 geborene Kläger, der bis zu einer im Jahre 2005 durchgeführten Geschlechtsumwandlung eine Frau mit dem Vornamen K. war, einen Antrag nach dem OEG wegen HWS-Distorsion sowie diverser Prellungen. Ein Anspruch nach dem OEG war zuvor durch die AOK Bremen-Bremerhaven im November 1999 bei der Beklagten geltend gemacht worden (Erstattungsanspruch). Unmittelbarer Anlass waren körperliche Angriffe am 6. und 7. November 1999 durch die 1968 geborene I. (im Folgenden Sch.). Die tätlichen Übergriffe bildeten jedoch lediglich den Höhepunkt von Belästigungen und Übergriffen, die im August 1998 begonnen hatten. Sch. hatte den Kläger 1995 kennengelernt, als sie kurzfristig an einem von dem Kläger geleiteten Selbstverteidigungskurs für Frauen (Wendo) teilnahm. Sch. hatte damals den Wunsch, eine Liebesbeziehung zu dem Kläger einzugehen, auf den der Kläger jedoch nicht einging. An einem Abend im August 1998 erschien Sch. in der Wohnung des Klägers und machte auf den Kläger sowie eine ebenfalls in der Wohnung anwesende Freundin einen sehr verwirrten Eindruck. Sie hantierte auch mit einem Messer, welches die beiden Frauen der Sch. abnahmen. Als alle anschließend den Sozialpsychiatrischen Dienst aufsuchten, machte die Sch. dann plötzlich einen ganz normalen Eindruck, so dass keine Maßnahmen getroffen wurden. In der Folgezeit versuchte Sch. in immer stärker werdendem Maße, Kontakt zu dem Kläger aufzunehmen, indem sie diesen mehrfach täglich telefonisch sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit (an der Universität J.) anrief. Ab Oktober 1998 steigerten sich die Anrufe dahingehend, dass bereits auf dem Anrufbeantworter etwa 35 Anrufe täglich eingingen. Diese hatten oft obszönen und sexuellen Inhalt. Sch. tauchte daneben auch regelmäßig vor der Haustür des Klägers auf, klingelte und verlangte zunehmend zur Tages- und Nachtzeit den Einlass in die Wohnung. Unter anderem klingelte Sch. auch an Wohnungstüren von Nachbarn des Klägers, die sich anschließend bei dem Kläger beschwerten. Weitere Nachstellungen ereigneten sich in der Uni-Mensa, wo Sch. täglich versuchte, sich dem Kläger zu nähern; auch dieses Verhalten führte in der Umgebung des Klägers zu erheblichen Irritationen. Als Folgen verstärkten sich bei dem Kläger ab Herbst 1998 - vorher in geringerem Maße vorhandene - Schlafstörungen, ferner entwickelten sich ein Gefühl permanenter Bedrohung und eine psychische Erschöpfung.
Von März 1999 an zeigte das Verhalten der Sch. eine zunehmende aggressive Tendenz. Sch. beschädigte mehrfach das Auto des Klägers; sie zerstach einen Reifen, schlug Beulen in das Auto und brach die Antenne mehrfach ab. Im Mai 1999 versetzte Sch. dem Kläger von hinten einen Schlag mit einem Aktenordner. Der Kläger nahm in dieser Zeit Kontakt zur Polizei auf. Nachdem am 26. Juli 1999 eine Anzeige aufgenommen worden war (wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Beleidigung), wurde der Sch. durch die Polizei untersagt, sich in die Nähe des Klägers zu begeben bzw. in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen. Diese Maßnahme führte allerdings nur zu einer kurzfristigen Verringerung der Belästigungen. In der Nacht vom 5. zum 6. November...