Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen Bl. Blindheit. cerebrale Störung des Sehvermögens. Versorgungsmedizinische Grundsätze. gleichzustellende schwere Sehstörung
Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei cerebralen Störungen, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, kann eine Blindheit im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu bejahen sein (vgl Teil A Nr 6 Buchst a S 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).
2. Die Maßstäbe, die das BSG in seinem Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R = BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3 dargelegt hat, gelten unabhängig davon, ob sich im konkreten Fall die Ursache der Sehstörung feststellen lässt, zumal es seine neue Rechtsprechung auch und gerade mit Verweis auf Art 3 Abs 1 und Abs 3 S 2 GG sowie Art 5 UNBehRÜbk begründet hat.
3. Dem Gesetz über das Landesblindengeld für Zivilblinde in Niedersachsen (juris: BlindGeldG ND) lässt sich kein Ausschluss cerebral bedingter Sehstörungen entnehmen. Unabhängig davon könnte das Landesblindengeldgesetz nicht die Maßstäbe für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl modifizieren.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen die erstinstanzliche Verurteilung zur Feststellung des Merkzeichens Bl (Blind) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Die 2007 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer Stoffwechselstörung (nichtketotische Hyperglycinämie [NKH]). Wegen der Funktionsbeeinträchtigung des Stoffwechsels durch nonketonische Hyperglycinämie mit zentralnervöser-epileptogener Beteiligung erkannte der Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und zuletzt die Merkzeichen H, B, G und aG zu. Für die Klägerin besteht Pflegebedürftigkeit nach der Stufe III (jetzt Pflegegrad 5).
Am 10. Oktober 2012 stellte die durch ihre Eltern vertretene Klägerin einen Neufeststellungsantrag, mit welchem sie die Zuerkennung des Merkzeichens Bl begehrte. Zur medizinischen Sachverhaltsaufklärung forderte der Beklagte einen Befundbericht des Facharztes für Kinderheilkunde und Jugendmedizin K. und das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 29. Oktober 2012 an. In seinem Befundbericht vom 28. November 2012 führte K. aus, dass die Klägerin nicht mit dem Blick folge und sie die Augenlider zu kleinen Sehschlitzen verschlossen halte. Wenn sie die Augen aufreiße, verdrehe sie die Pupillen nach oben. Man müsse davon ausgehen, dass das Gehirn aufgrund der Stoffwechselstörung und der täglichen Krampfanfälle visuelle Sinneseindrücke bisher gar nicht habe verarbeiten können. Dem Befundbericht waren Berichte des Kinder- und Jugendarztes L. vom 15. November 2011 und vom 18. September 2012, des Kinderorthopäden M. und der Krankengymnastin N. vom 29. August 2012 beigefügt. Nach Auswertung dieses Befundberichtes und von Berichten des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin O. vom 29. Februar 2012, 15. Dezember 2010, 4. Mai 2011 und 25. September 2012 durch den Ärztlichen Dienst des Beklagten (Stellungnahmen von Frau P. vom 16. November 2012 und vom 4. Februar 2013 sowie von Frau Q. vom 20. Dezember 2012) erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 6. Februar 2013 das Merkzeichen RF zu und lehnte die Zuerkennung des Merkzeichens Bl ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen kein Anhalt für eine Blindheit nach der Versorgungsmedizin-Verordnung ergebe. Eine weitere apparative medizinische Sachverhaltsaufklärung sei nicht erforderlich und erscheine aktuell auch nicht vertretbar.
Zur Begründung des hiergegen gerichteten Widerspruchs führten die gesetzlichen Vertreter der Klägerin aus, dass die Klägerin in der meisten Zeit des Tages die Augen geschlossen halte oder nur einen kleinen Spalt geöffnet habe. Nach einem Krampfanfall habe sie die Augen oft weit geöffnet, die Pupille drehe sich jedoch im Sichtfeld unkontrolliert hin und her und bewege sich dann nach oben, so dass von der Pupille nur noch der untere Rand zu sehen sei. Im Umgang mit der Klägerin werde immer deutlicher, dass diese kein Interesse an ihren Augen habe. Sie habe sich dahingehend entwickelt, dass sie sogar bei der Nahrungsaufnahme die Augen ganz schließe. Auf Veranlassung des Beklagten erhob die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin O. die Ableitung der Visuell Evozierten Potentiale (VEP) mittels Blitzbrille. In ihrem Bericht vom 21. August 2013 teilte O. hierzu mit, dass sich eine erhebliche Latenzverzögerung für die N1 ergeben habe, so dass von einer ausgeprägten zentralen Funktionsstörung auszugehen sei. Klinisch schließe und öffne die Klägerin die Augen völlig unkontrolliert, es erfolge keine Reaktion auf eine Lichtquelle, kein Fixieren.
Gestützt auf eine weitere Stellungnahme (Frau R.) des Ärztlichen Dienstes vom 19. Sep...