Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit einer Entschädigungsklage. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren. zeitlicher Geltungsbereich. Übergangsrecht. abgeschlossenes Verfahren. anhängige Beschwerde beim EGMR. Unzulässigkeit von wiederholten Beschwerden. Gegenstand einer Individualbeschwerde. Beschwerdefrist. Beendigung des innerstaatlichen Verfahrens. Zeitpunkt der Entscheidung in der Hauptsache. sozialgerichtliches Verfahren

 

Orientierungssatz

1. Für abgeschlossene Verfahren gilt das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (juris: ÜberlVfRSchG) nur dann, wenn die Dauer des Verfahrens am 3.12.2011 entweder Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim EGMR gewesen ist oder noch werden konnte. Wird keine dieser Voraussetzungen erfüllt, ist eine Entschädigungsklage unzulässig.

2. Gegenstand der Individualbeschwerde beim EGMR ist nicht der Ersatz eines Schadens - sei es nun materieller oder immaterieller Art - durch einen bestimmten Schuldner, sondern vielmehr die Behauptung, in einem Konventionsrecht verletzt zu sein. In diesem Sinne sind wiederholte Beschwerden, die denselben Beschwerdegegenstand wie eine schon einmal eingereichte Beschwerde an den Gerichtshof betreffen, nach Art 35 Abs 2 Buchst b MRK unzulässig.

3. Wie Art 35 Abs 1 MRK zu entnehmen ist, kommt es für die Frage des Zeitpunktes der Verfahrensbeendigung des innerstaatlichen Verfahrens auf die Entscheidung in der Hauptsache an (vgl EGMR vom 23.5.1991, 6/1990/197/257 = NJW 1992, 613).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 18.06.2014; Aktenzeichen B 10 ÜG 22/13 B)

BSG (Beschluss vom 27.06.2013; Aktenzeichen B 10 ÜG 2/13 B)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Verfahrens wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von dem Beklagten Entschädigung wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) Hannover bzw Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen geführten Gerichtsverfahren S 43 KA 371/03 = L 3 KA 85/07. Insoweit macht der Kläger immateriellen Schadensersatz in Höhe von 10.000 EUR nebst einem unbezifferten materiellen Schadensersatz geltend.

Der Kläger nimmt als Zahnarzt mit Sitz in F. an der vertragszahnärztlichen Versorgung in Niedersachsen teil. In 2002 rechnete er vertragszahnärztliche Leistungen i.H.v. 229.852,22 EUR ab. Mit Bescheid vom 27. März 2003 setzte die Kassenzahnärztliche Vereinigung Niedersachsen (KZVN) das vertragszahnärztliche Honorar des Klägers im Kalenderjahr 2002 stattdessen mit 204.249,46 EUR fest. Hiergegen erhob der Kläger erfolglos Widerspruch und am 7. August 2003 Klage vor dem SG. Mit Urteil vom 26. September 2007 wies das SG die Klage ab. Die gegen diese Entscheidung vom Kläger beim LSG eingelegte Berufung wies das LSG mit Urteil vom 12. Mai 2010 zurück. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wies das BSG mit Beschluss vom 9. Februar 2011 zurück.

Zwischen dem 10. Juni 2007 und 26. August 2008 hat der Kläger in dieser Sache (Individualbeschwerde-Nr. 27596/09) sowie zehn weiteren Verfahren Individualbeschwerden zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erhoben und gerügt, dass die Verfahrensdauern der sozialgerichtlichen Verfahren mit dem Gebot der "angemessenen Frist" nach Art 6 Abs 1 EMRK unvereinbar gewesen seien. Mit Urteil vom 16. Dezember 2010 hat der EGMR in den zusammengefassten Individualbeschwerdeverfahren des Klägers Nrn. 39778/07, 11171/08, 43336/08, 52719/08, 15895/09, 16123/09, 16127/09, 16129/09, 27529/09, 27533/09 und 27596/09 die beklagte Bundesrepublik Deutschland verurteilt, an den Kläger einmalig 30.000 EUR immateriellen Schadensersatz zu zahlen. Der EGMR hat die Auffassung vertreten, dass die jeweilige Dauer der gerügten Verfahren überlang gewesen sei und dem Erfordernis der "angemessenen Frist" nicht entsprochen habe. Folglich sei Art 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden. Darüber hinaus hat der EGMR die von dem Kläger geltend gemachte Forderung bezüglich des materiellen Schadens in vollem Umfang zurückgewiesen.

Mit seiner am 9. Januar 2012 eingegangenen, gegen das Land Niedersachsen gerichteten Klage macht der Kläger nunmehr erneut Entschädigung wegen unangemessener Dauer des Verfahrens S 43 KA 371/03 = L 3 KA 85/07 in Höhe von 10.000 EUR (immaterieller Schadensersatz) zuzüglich eines unbezifferten materiellen Schadensersatzes geltend. Im Hinblick auf die Zulässigkeit der Klage betont er, dass sich die von ihm beim EGMR erhobene Individualbeschwerde Nr. 27596/09 gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet habe, wohingegen er nunmehr das Land Niedersachsen in Anspruch nehme. Er habe zu dem Verfahren S 43 KA 371/03 = L 3 KA 85/07 eine weitere Individualbeschwerde zum EGMR hinsichtlich der von dem Urteil des EGMR (16. Dezember 2010) noch nicht erfassten Verfahrensdauer sowie ihm - dem Kläger - entstandener materieller Schäden erhoben. Schließlich habe der EGMR in seinem Urteil nicht die ge...

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