OLG erhöhte Entschädigung für überlanges Gerichtsverfahren bei psychischer Belastung
Gegenstand des vom OLG entschiedenen Rechtsstreits war die Klage auf Entschädigung wegen unangemessen langer Verfahrensdauer eines vor dem LG Göttingen geführten Pilotverfahrens.
Kläger war ursprünglich Beklagter einer Schadensersatzklage wegen Anlagenbetrugs
In dem der Entschädigungsklage vorausgegangenen Ausgangsverfahren war der Kläger auf Schadenersatz u.a. wegen Kapitalanlagebetrugs verklagt worden. Dieses Ausgangsverfahren war vom LG als Pilotverfahren für ca. 140 weitere gegen den Kläger und damaligen Beklagten gerichtete, gleich gelagerte Verfahren zum Zwecke der Einholung eines einzigen, in sämtlichen Verfahren verwendbaren schriftlichen Sachverständigengutachtens bestimmt worden. Das Ausgangsgericht erteilte mit Verfügung vom 8.5.2013 den Verfahrensbeteiligten den Hinweis, besagtes Sachverständigengutachten - unter anderem zur geschäftlichen Konzeption der Gesellschaft, die Gegenstand der Kapitalbeteiligungen war - beauftragen zu wollen.
Verzögerungsrüge erstmals im Oktober 2017
Nachdem die zuständige Kammer das Gutachten kurz darauf in Auftrag gegeben hatte, legte der Sachverständige das Gutachten im Mai 2016 vor. Nachdem das Verfahren daraufhin keinen Fortgang nahm, erhob der damalige Beklagte und jetzige Entschädigungskläger im Oktober 2017 erstmals eine Verzögerungsrüge und wiederholte diese, nachdem das Verfahren weiterhin stockte, im Januar 2019. Im März 2019 beschloss die Kammer daraufhin die Einholung eines Ergänzungsgutachtens. Im Oktober 2019 endete das Verfahren durch Klagerücknahme der Anleger.
Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer
Hierauf forderte der Beklagte des Ausgangsverfahrens vom Land Niedersachsen eine Entschädigung in Höhe von 11.550 Euro wegen überlanger Verfahrensdauer. Da das Land nicht freiwillig zahlte, erhob der Beklagte des Ausgangsverfahrens Entschädigungsklage, der das OLG in Höhe von ca. 6.500 Euro stattgab.
8 Monate Überlänge
Nach dem Urteil des OLG hatte das LG nach Vorlage des ersten Gutachtens das Verfahren nicht in angemessener Weise gefördert. Der Zeitraum von fast drei Jahren nach Vorlage des ersten Gutachtens im Mai 2016 bis zur Entscheidung über die Einholung eines Ergänzungsgutachtens sei eindeutig zu lang. Allerdings gestand der Senat der Kammer des LG nach Vorlage des ersten Gutachtens eine angemessene Bearbeitungs- und Bedenkzeit zu, die aber auch unter Berücksichtigung der sachlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falls um ca. acht Monate überdehnt worden sei.
Gesetzliche Vermutung für immateriellen Nachteil des Klägers
Infolge dieser Überlänge ist nach Auffassung des OLG dem Kläger ein erheblicher immaterieller Schaden entstanden. Gemäß § 198 GVG wird ein immaterieller Schaden vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren nicht angemessen gefördert wurde und sich dadurch über Gebühr in die Länge gezogen hat. Die Regelentschädigung beträgt gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung.
Erhöhung der gesetzlichen Regelentschädigung
Der im Gesetz vorgesehene Regelbetrag war nach der Entscheidung des OLG im konkreten Fall deutlich zu erhöhen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass das Ausgangsgericht gehalten war, das Pilotverfahren mit höchster Priorität möglichst akkurat und lückenlos zu fördern. Diesen Anforderungen sei das LG nicht gerecht geworden.
Entschädigungsrelevante Bedeutung des Pilotverfahrens
Schließlich stellt nach Auffassung des Senats die Ausstrahlungswirkung eines Pilotverfahrens auf eine Vielzahl von anhängigen Verfahren eine entschädigungsrelevante Besonderheit dar, die bei Bemessung der Entschädigung zu berücksichtigen ist. Dem Pilotverfahren sei eine richtungsweisende Bedeutung für eine ganze Reihe weiterer Parallelverfahren zugekommen, die ebenfalls sämtlich den gleichen Beklagten und jetzigen Kläger betrafen.
Vielzahl der Verfahren bedeutet erhebliche psychische Belastung
Im Rahmen der Abwägung des dem Kläger entstandenen immateriellen Schadens sei die erhebliche psychische Belastung infolge der anhängigen vielfältigen gegen ihn gerichteten Schadenersatzklagen zu berücksichtigen. Ca. 140 Verfahren hätten während des Pilotverfahrens faktisch geruht. Die damit verbundene Besorgnis, die Ungewissheit und auch die daraus resultierenden Rufschädigungen rechtfertigten nach Auffassung des OLG eine deutliche Heraufsetzung des Regelbetrages auf insgesamt ca. 6.500 Euro. In dieser Höhe sei die Klage begründet.
Revision zum BGH zugelassen
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Senat hat die Revision zum BGH ausdrücklich zugelassen.
(OLG Braunschweig, Urteil v. 5.11.2021, 4 EK 23/20)
Hintergrund: Rechtsschutz für überlange Gerichtsverfahren
Im Jahr 2011 hat der Gesetzgeber einen Rechtsschutz für Verfahrensbeteiligte bei überlangen Gerichtsverfahren in das GVG eingeführt.
Verzögerungsrüge ist Voraussetzung für Entschädigung
Gemäß § 198 GVG haben die Beteiligten eines Gerichtsverfahrens seither die Möglichkeit zur Erhebung einer Verzögerungsrüge, die nach Beendigung des Ausgangsverfahrens die Option zur Forderung einer Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer eröffnet.
Überlänge beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls
Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beurteilt sich die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach den Gesamtumständen des Einzelfalls, wobei Schwierigkeit, Bedeutung des Verfahrens und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten eine entscheidende Rolle spielen.
Regelentschädigung: 1.200 Euro pro Überziehungsjahr
Gemäß § 198 Abs. 2 GVG wird ein immaterieller Nachteil bei einer unangemessen langen Verfahrensdauer vermutet. Die Regelentschädigung beträgt gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung und kann vom Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls angemessen ermäßigt oder erhöht werden.
Klagefristen
Eine Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer ist frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge möglich und muss spätestens sechs Monate nach Beendigung des Ausgangsverfahrens erhoben werden, § 198 Abs. 5 GVG.
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