Laut BVerfG ist Überlastung des Gerichts kein U-Haft-Grund
Die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts ist im Fall eines Untersuchungsgefangenen ergangen, der sich seit Anfang November 2016 unter anderem wegen schwerer räuberischer Erpressung und Bildung einer kriminellen Vereinigung in Untersuchungshaft befand.
Schleppender Verfahrensablauf? Keine U-Haft infolge Überlastung des Gerichts
Die von der zuständigen StA verfasste Anklageschrift ging dem LG Dresden Ende April 2017 zu. Am gleichen Tag zeigte der Vorsitzende der zuständigen Staatsschutzkammer am LG Dresden gegenüber dem Präsidium des Landgerichts die Überlastung seiner Kammer an. Eine solche Überlastung hatte der Vorsitzende bereits im Jahr 2017 zweimal dem Präsidium angezeigt.
- Ende Juni errichtete der Präsident des LG darauf eine weitere große Strafkammer als Staatsschutzkammer, die das Verfahren zum 1. Juli 2017 übernahm.
- Erst Ende November 2017 ließ die neue Strafkammer die Anklage zu und beschloss die Eröffnung des Hauptverfahrens.
- Die Verhandlung begann darauf am 6. Dezember 2017.
- Bis Mai 2018 wurden 21 Verhandlungstermine anberaumt.
- Für den Zeitraum Juni bis August 2018 wurden zwei Termine pro Monat angesetzt,
- in der Zeit bis Januar 2019 sollen 3-4 Termine pro Monat stattfinden.
Untersuchungshäftling wehrt sich gegen überlange Untersuchungshaft
Nach mehreren erfolglosen Beschwerden gegen die immer wieder angeordnete Fortdauer der Untersuchungshaft, legte der Untersuchungshäftling gegen einen entsprechenden Beschluss des OLG Dresden vom 27. 3. 2018 Verfassungsbeschwerde ein und
- rügte die Verletzung seines Rechtes auf Freiheit der Person gemäß Artikel 2 Abs. 2 S. 2 GG
- und die Verletzung seines Rechtes auf ein faires Verfahren Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Untersuchungshaft ist die Ausnahme, nicht die Regel
Die Verfassungsrichter wiesen in ihrer Entscheidung zunächst auf das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung hin.
- Es gelte der Grundsatz, dass regelmäßig nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden dürfe.
- Zu Gunsten eines lediglich einer Straftat Verdächtigen gelte grundsätzlich die Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtssatzprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG habe.
- Daraus folge, dass die Untersuchungshaft von vornherein nur ausnahmsweise zulässig sei.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Anordnung einer Untersuchungshaft im Einzelfall angemessen sei, um den unabweisbaren Strafanspruch des Staates zu gewährleisten, komme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine besondere Bedeutung zu.
Untersuchungshaft muss so kurz wie möglich gestaltet werden
Aus diesem Ausnahmeprinzip folgt nach dem Diktum der Verfassungsrichter, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte
- sämtliche ihnen möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen müssen, um die Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen
- und möglichst zeitnah eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.
- Aus diesen Prinzipien folgern die Verfassungsrichter weiter, dass im Fall der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung umgehend zu beschließen ist (BVerfG Beschluss v. 4.5.2011, 2 BvR 2781/10)
- und anschließend im Regelfall innerhalb von drei Monaten die Hauptverhandlung beginnen muss.
Der Staat trägt die Verantwortung für die Ausstattung der Gerichte
Für den konkreten Fall folgerten die höchsten Richter aus dem Grundsatz der Ausnahme der Untersuchungshaft, dass
- eine Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden kann, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursachen nicht in dem konkreten Strafverfahren haben.
- Die nicht nur kurzfristige Überlassung eines Gerichts könne danach niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein.
- Dies gelte auch dann, wenn die Verzögerungen auf einem Geschäftsanfall beruhen, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.
- Die Überlastung eines Gerichts falle allein in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft.
Fazit: Dem Beschuldigten könne nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil es der Staat versäume, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (BVerfG, Beschluss v. 30.7.2014, 2 BvR 1457714).
Unzureichende Verhandlungsdichte
Das Gericht betonte auch, dass vor diesem Hintergrund Haftfortdauerentscheidungen einer erhöhten Begründungstiefe unterliegen und jeder Beschluss aktuelle Ausführungen zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit zu enthalten habe. Diesen Erfordernissen genüge der vom Untersuchungsgefangenen angegriffene Beschluss des OLG nicht. Insbesondere sei nicht nachvollziehbar, dass es
- nach Anklageerhebung zwei Monate dauerte, bis das Landgericht eine weitere Strafkammer errichtet habe,
- dass nach Übernahme des Verfahrens durch die neu gebildete Strafkammer bis zum Eröffnungsbeschluss des Hauptverfahrens fast fünf Monate vergangen und
- dass für einige Monate nur zwei Verhandlungstage angesetzt worden seien.
- Dies zeuge nicht von einer angemessenen Verhandlungsdichte.
Ergebnis: Verfassungsbeschwerde erfolgreich
Das BVerfG wies ausdrücklich darauf hin, dass es hiernach auf die möglichen Haftgründe Flucht- und Verdunkelungsgefahr nicht mehr ankomme. Das Gericht stellte daher gemäß § 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG fest, dass der Beschwerdeführer durch die Anordnung der Fortdauer der Haft in seinen verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt und der U-Haft Beschluss des OLG Dresden aufzuheben ist.
(BVerfG, Beschluss v. 11.6.2018, 2 BvR 819/18).
Hintergrund:
Unschuldsvermutung und Durchbrechungen
Im deutschen Rechtssystem ist die Unschuldsvermutung nicht explizit niedergelegt. Sie ist jedoch nach einhelliger Auffassung eine zwingende Folge des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 GG. In Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist die Unschuldsvermutung ausdrücklich festgeschrieben. Dort heißt es:
Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
Es ist unumstritten, dass die Unschuldsvermutung unter bestimmten Umständen auch gewissen Grenzen unterliegt. Vor allem kann im Einzelfall gegenüber Personen, die noch nicht rechtskräftig verurteilt worden sind, Untersuchungshaft angeordnet werden (§§ 112 ff. StPO).Da ein Unschuldiger jedoch nicht ohne Weiteres seiner Freiheit beraubt werden darf, sind die entsprechenden Voraussetzungen eng. So müssen zum einen ein dringender Tatverdacht und zum anderen ein Haftgrund vorliegen. Insoweit kommen hauptsächlich Flucht, Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr in Betracht.
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