Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. selbstständiges Probewohnen in eigener Wohnung im Rahmen des Maßregelvollzugs
Leitsatz (amtlich)
Das Probewohnen im Rahmen des Maßregelvollzugs stellt keinen Aufenthalt aufgrund richterlicher Freiheitsentziehung im maßregelvollzugsrechtlichen Sinne dar und begründet keinen Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 SGB 2.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Sätze 1-2, § 8 Abs. 1, §§ 9, 41 Abs. 1 S. 4; StGB § 64; MVollzG ND §§ 3, 11, 15; BGB § 1666
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 6. November 2013 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte erstattet auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich nur noch gegen die Zahlung von Arbeitslosengeld II an den Kläger für den Zeitraum vom 11. August bis zum 31. Dezember 2012. Streitig ist die Frage, ob der Leistungsausschluss wegen des Aufenthaltes in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) eingreift.
Der 1952 geborene Kläger befand sich vom Jahre 2003 an im Maßregelvollzug bei der F. Klinik für Forensische Psychiatrie in G.. Ab April 2011 ging er einer geringfügigen Beschäftigung mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von weniger als 15 Wochenstunden nach. Am 24. Februar 2012 erteilte die zuständige Staatsanwaltschaft H. auf Anfrage der Klinik ihr Einverständnis mit dem Probewohnen des Klägers in einer eigenen Wohnung außerhalb der Klinik. Daraufhin mietete der Kläger ab 1. März 2012 eine Wohnung in der I. in J. an. Am 7. März 2012 meldete der Kläger dort seinen ersten Wohnsitz bei der Meldebehörde an. Sobald der Lebensunterhalt des Klägers gesichert wäre und der endgültige Umzug in die eigene Wohnung erfolgen dürfte, sollte nach Mitteilung der Klinik vom 31. Juli 2012 eine Anbindung zum Maßregelungsvollzug nur dadurch erfolgen, dass der Kläger zu Beginn des Probewohnens alle zwei Wochen und kurze Zeit später alle vier Wochen eine Nacht im Fachklinikum verbringen musste.
Am 16. März 2012 stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung von SGB II-Leistungen. Diesen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 2. April 2012 ab, weil der Kläger trotz des Probewohnens nach wie vor nicht aus dem Maßregelvollzug entlassen worden und deshalb nach § 7 Abs. 4 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Die Ausnahmevorschrift des § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II greife nicht, weil der Kläger nicht tatsächlich mindestens 15 Stunden wöchentlich unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes arbeite. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2012).
Da der Chefarzt der Klinik einen Umzug in die eigene Wohnung von einer Sicherstellung der Unterkunftskosten und des eigenen Lebensunterhalts abhängig gemacht hatte, durfte der Kläger nach Antragstellung zunächst nicht in die eigene Wohnung umziehen und wurde weiterhin in der Klinik versorgt. Erst nachdem sich der Beklagte Anfang August 2012 im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens verpflichtet hatte, dem Kläger vorläufig Arbeitslosengeld II sowie eine Beihilfe für die Wohnungserstausstattung zu zahlen, war die Finanzierung gesichert. Am 11. August 2012 zog der Kläger in die eigene Wohnung um. Ab diesem Tage sind von der Klinik keine weiteren Leistungen geflossen.
Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim hat der Kläger vorgetragen, dass er sich seit der Genehmigung des Probewohnens und der Anmietung der Wohnung im März 2012 nicht mehr in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II aufhalte.
Der Beklagte hat erstinstanzlich erwidert, der Kläger sei nicht aus dem Maßregelvollzug entlassen worden und die Vollzugslockerung in der Form des Probewohnens ändere an seinem grundsätzlichen Aufenthalt in der Klinik nichts. Das Bundessozialgericht (BSG) habe nämlich im Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 81/08 R - Rdz. 25 festgestellt, dass bei richterlich angeordneter Freiheitsentziehung Vollzugslockerungen den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II nicht beseitigen würden.
Zuvor hatte der Beklagte - ein zusätzlich zugelassener kommunaler Träger nach § 6a SGB II - mit Bescheid vom 23. Juli 2012 Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) abgelehnt, weil der Kläger mehr als 15 Stunden wöchentlich arbeiten könne und somit nicht erwerbsunfähig sei.
Das SG Hildesheim hat mit Urteil vom 6. November 2013 den Bescheid vom 2. April 2012 und den Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2012 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe an den Kläger für den Zeitraum vom 1. März bis zum 31. Dezember 2012 zu gewähren. In den Gründen hat es ausgeführt, dass die Fiktion der Erwerbsunfähigkeit vo...