Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Stimmstörung. belastungsabhängige Heiserkeit bei einer Lehrerin. keine Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit. berufsunabhängige Bestimmung des GdB. GdB-Herabsetzung nach Heilungsbewährung. Entziehung der Schwerbehinderteneigenschaft. sozialgerichtliches Verfahren. kein Beklagtenwechsel bei reiner Anfechtungsklage

 

Orientierungssatz

1. Im Rahmen der Feststellung des Grads der Behinderung hat eine besondere berufliche Betroffenheit (hier einer Lehrerin durch belastungsabhängige Heiserkeit) unberücksichtigt zu bleiben, da nach Teil A Nr 2 Buchst b VMG (Versorgungsmedizinische Grundsätze) der GdB unabhängig vom ausgeübten Beruf zu beurteilen ist.

2. Ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit während des sozialgerichtlichen Verfahrens (hier wegen Umzugs des behinderten Menschen) führt nur bei Verpflichtungsklagen, nicht aber bei Anfechtungsklagen zu einem Beklagtenwechsel (vgl BSG vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 2/06 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 5).

3. Zur GdB-Herabsetzung nach Heilungsbewährung.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 14.09.2023; Aktenzeichen B 9 SB 16/23 B)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin 1/5 der notwendigen Kosten des Widerspruchs- und Klageverfahrens, für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Anfechtungsklage gegen eine Herabsetzung ihres Grades der Behinderung (GdB) von zuvor 80 auf nunmehr 20 nach eingetretener Heilungsbewährung in der Folge einer Krebserkrankung der Schilddrüse, welche der Klägerin im September 2014 operativ entfernt worden war.

Mit Bescheid des Beklagten vom 14. Januar 2015 war der GdB der 1982 geborenen, als Gymnasiallehrerin mit den Fächern Deutsch, Sport und evangelische Religion berufstätigen Klägerin mit 80 wegen einer Schilddrüsenerkrankung und Stimmstörung in Heilungsbewährung nach durchgeführter Operation - bei der es versehentlich zu einer Schädigung des nervus recurrens gekommen war - festgestellt worden. Im Jahr 2019 griff der Beklagte das Verfahren von Amts wegen wieder auf. Hinweise auf ein Rezidiv der Krebserkrankung fanden sich nicht, es verblieben gemäß Berichten des Universitätsklinikums H. (I.) Heiserkeit nach langem Reden, ferner Müdigkeit und Abgeschlagenheit sowie Schluckbeschwerden. Das Körpergewicht der Klägerin lag bei 69 kg. Sie hatte aktuell noch ihre Stundenzahl reduziert, hatte aber geplant, ab Mai 2020 wieder mit voller Stundenzahl zu arbeiten.

Der behandelnde Hausarzt der Klägerin, der Internist J., führte unter dem 29. Januar 2020 aus, es bestehe ein chronisches Müdigkeitssyndrom als Folge der Krebserkrankung. Die Klägerin schaffe es nur mit größter Anstrengung, ihren Verpflichtungen als Lehrerin nachzukommen, bei schon reduzierter Stundenzahl. Nach einem Arbeitstag sei sie völlig fertig. Infekte zögen sich bei ihr über lange Wochen hin, was durch das angeschlagene Immunsystem ebenfalls erklärlich sei. In gewisser Weise sei hier das Karzinom auch als Systemkrankheit zu verstehen. Das Sprechen falle ihr weiterhin schwer.

Im Februar 2020 suchte die Klägerin zudem erstmals den Neurologen und Psychiater Dr. K. auf. Er berichtete, neben der körperlichen Erschöpfung hätten sich auch psychische Symptome entwickelt, welche die Kriterien einer mittelgradigen depressiven Episode erfüllten und wie er in seinem Befundbericht vom 20. Februar 2020 näher ausführte.

Nach Anhörung der Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 25. März 2020, der den Ausgangspunkt des hier anhängigen Rechtsstreits darstellt, den GdB mit Wirkung für die Zukunft mit weniger als 20 neu fest und hob den Bescheid vom 14. Januar 2015 insoweit auf. Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren stellte der Beklagte gemäß einer eingeholten weiteren Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2020 im Wege der Teilabhilfe einen Einzel-GdB von 20 aufgrund der Funktionsstörung „Müdigkeitssyndrom, psychische Störungen“ fest, im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.

Die Klägerin hat am 8. Juni 2020 Klage erhoben. Sie hat sich weiterhin insbesondere auf ein Müdigkeitssyndrom und auf eine psychische Erkrankung berufen, insgesamt sei die weitere Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von nunmehr 50 auch weiterhin gerechtfertigt.

Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. mit Zusatzgutachten des HNO-Facharztes Dr. M. eingeholt. Zunächst hat unter dem 3. Mai 2021 der HNO-Facharzt Dr. M. sein Zusatzgutachten erstattet. Er hat eine belastungsabhängige Heiserkeit festgestellt, in Ruhe sei die Stimme normal. Diesbezüglich schlage er einen Einzel-GdB von 20 vor. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. hat unter dem 27. Mai 2021 sein Hauptgutachten erstattet. Die in intakter Beziehung lebende Klägerin ist zu dieser Zeit ...

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