Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewertung eines Diabetes mellitus im Schwerbehindertenrecht. Zuerkennung des Merkzeichens H

 

Orientierungssatz

1. Ein Diabetes mellitus, der eine Hypoglykämie auslösen kann, welche die eine einmal pro Tag erforderliche Überprüfung des Blutzuckers erforderlich macht und die Lebensführung durch weitere Einschnitte beeinträchtigt, ist mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Ein Diabetes, der eine Insulintherapie mit vier notwendigen Injektionen pro Tag erfordert, ist mit einem GdB von 50 zu bewerten.

2. Bei den zur Anerkennung des Merkzeichens H gemäß § 33b Abs. 6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren.

3. Dabei muss es sich um wenigstens drei Verrichtungen handeln, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen. Hilflosigkeit ist erst dann anzunehmen, wenn der tägliche Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen mindestens zwei Stunden erreicht; dies entspricht dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe 2 der Pflegeversicherung.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 7. Mai 2015 wird aufgehoben, soweit es den Bescheid des Beklagten vom 26. Januar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2011 dahingehend geändert hat, dass es den Beklagten verpflichtet hat, einen höheren GdB der Klägerin als 30 und das Merkzeichen „H“ über April 2014 hinaus festzustellen. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin ein Viertel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung dagegen, dass das Sozialgericht (SG) Osnabrück ihn verpflichtet hat, bei der im April 1998 geborenen Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie das Merkzeichen „H“ festzustellen.

Die Klägerin ist an einem angeborenen adrenogenitalen Syndrom (AGS) mit Salzverlust erkrankt. Unter Hinweis auf diese Erkrankung stellte sie am 15. November 2010 vertreten durch ihre sorgeberechtigten Eltern einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sowie auf Erteilung des Merkzeichens „H“. Sie verwies auf ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 3. Mai 2006 - L 9 SB 45/03 - und die dort erfolgte Zuerkennung eines GdB von 80 sowie des Merkzeichens „H“ in einem ihrer Ansicht nach vergleichbaren Fall. Ferner fügte sie ihrem Antrag einen Bericht des Universitätsklinikums J. vom 1. März 2010 bei, in welchem die genannte Diagnose bestätigt wird; dort ist ausgeführt, der Klägerin gehe es gut, wesentliche Erkrankungen seien nicht aufgetreten, sie habe allerdings einen Schwächeanfall als Messdienerin erlitten, bei dem sie fast umgekippt wäre. Ein weiterer Bericht derselben Klinik vom 27. Mai 2010 verweist darauf, am 22. April 2010 sei im Rahmen einer gastrointestinalen Erkrankung mit Erbrechen eine Medikamentengabe erforderlich gewesen, ansonsten gäbe es keine Erkrankungen und keine Besonderheiten.

In einer Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes des Beklagten vom 9. Dezember 2010 - Dr. K. - wird die Erkrankung näher dargelegt. Das AGS führe infolge einer angeborenen Enzymstörung zu einem Mangel an Glukokortikoiden und Mineralokortikoiden, während das Testosteron vermehrt gebildet werde. Die Nebenniere selbst sei gesund, der Fehler liege in der Steuerung der Hormonproduktion. Dieser Mangel sei medikamentös gut zu substituieren und es werde eine normale kindliche Entwicklung ermöglicht. Durch die Substitution sei auch eine normale Sexualentwicklung gewährleistet. Das Krankheitsbild sei in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) und in den zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" (VMG) nicht extra aufgeführt, sei aber dem dort aufgeführten Addison-Syndrom (chronische Nebennierenrindeninsuffizienz, Teil B Nr. 15.7 VMG) funktionell sehr ähnlich. Jedenfalls seien die funktionellen Auswirkungen dieser Erkrankungen vergleichbar. In dem vom LSG entschiedenen Einzelfall sei erhöhend eine angeborene Fehlbildung der äußeren Genitalien hinzugekommen. Eine Verallgemeinerung sei nicht möglich. Wegen der notwendigen und genau einzunehmenden Medikamente und der Notwendigkeit, in Stresssituationen die Dosis zu erhöhen, könne ein GdB von 20 anerkannt werden. Im Vergleich zum insulinpflichtigen Diabetes mellitus, bei dem mehrmals täglich der Blutzucker gemessen und eine nach den Umständen jeweils zu berechnende Insulinmenge injiziert werden müsse, bestehe ein deutlich geringerer Aufwand. Auch eine ständige Überwachung bei einem sonst gesunden Kind mit dem AGS-Syndrom sei nicht nachzuvollziehen, das Merkzeichen „H“ folglich nicht zu begründen. Darauf...

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