Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Chemikalien-Überempfindlichkeitserkrankung. keine körperlichen Einschränkungen. Beurteilung der psychischen Beschwerden. keine Anwesenheit einer Vertrauensperson beim Explorationsgespräch. Merkzeichen RF. Ermäßigung des Rundfunkbeitrags. Ausschluss der Veranstaltungsteilnahme. Bindung an das Haus. Verlassen des Hauses in Begleitung. Merkzeichen G. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens

 

Orientierungssatz

1. Die Chemikalien-Überempfindlichkeitserkrankung (MCS/CFS) stellt eine komplexe Symptomatik dar, die somatische Anomalien, physische aber auch psychische Folgen nach sich zieht. Bestehen keine physischen funktionellen Einschränkungen aufgrund der Erkrankung, verbleibt für die Beurteilung des GdB allein die Möglichkeit der Berücksichtigung der somatischen und psychischen Beschwerden.

2. Vor allem die psychiatrische Anamnese betrifft wesentlich auch das persönliche Umfeld des zu Begutachtenden, sodass es für die Erstellung wesentlicher Teile des psychiatrischen Gutachtens erforderlich sein kann, dass der Sachverständige allein mit dem zu Begutachtenden das Gespräch führt.

3. Die Anerkennung des Merkzeichens RF (Ermäßigung des Rundfunkbeitrags) wegen Ausschlusses von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen setzt voraus, dass der behinderte Mensch aufgrund seiner Leiden an das Haus gebunden ist. Diese Voraussetzung liegt nicht vor, wenn der behinderte Mensch es gemeinsam mit seinem Ehepartner verlassen kann, um Einkäufe zu erledigen und Ärzte aufzusuchen.

4. Die Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) sind nicht erfüllt, wenn das Unvermögen zum Ortswechsel ist nicht Folge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 05.08.2014; Aktenzeichen B 9 SB 36/14 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 18. September 2012 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festzustellen ist; darüber hinaus begehrt die Klägerin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “G„, “B„ und “RF„.

Im August 2009 beantragte die 1949 geborene Klägerin im Hinblick auf eine Chemikalien-Überempfindlichkeitserkrankung (MCS/CFS) die Festsetzung eines GdB sowie der Merkzeichen “G„, “H„, “RF„ und B„ rückwirkend ab dem 19. November 2008. Hierfür bezog sie sich auf ein von ihr vorgelegtes Gesundheitszeugnis vom 12. Juni 2009, das für die Landesschulbehörde J. erstellt worden war. Danach bestehe bei der Klägerin eine multiple Chemikaliensensitivität, die durch Exposition gegenüber verschiedenen chemischen Stoffen verursacht werde. Die vielfältigen Beschwerden schränkten die Leistungsfähigkeit der Klägerin stark ein, diese könne schon ganz alltägliche Belastungen mit Chemikalien nicht vertragen, z.B. Duftstoffe in Parfums und Ausdünstungen von Möbeln. Die Beschwerden könnten nur durch ein Vermeiden der als Auslöser bekannten Chemikalien beeinflusst werden. Der Beklagte zog einen Befundbericht der die Klägerin behandelnden Ärztin für Naturheilverfahren Dr. K. bei und setzte mit Bescheid vom 20. November 2009 den GdB für die Funktionsbeeinträchtigung “Chemikalien-Überempfindlichkeitssyndrom„ ab dem 1. November 2008 mit 30 fest. Die Feststellung von Merkzeichen lehnte er ab, weil der GdB unter 50 liege. Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, schwer chronisch erkrankt zu sein, ohne dass es hierfür einen Therapieansatz gebe. Für sie bedeute jeder Aufenthalt in der Öffentlichkeit eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes. Aufgrund ihrer Erkrankung seien ihr die Ausübung ihres Berufes, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, der Besuch von Veranstaltungen und normale Alltagsaktivitäten, wie z.B. Einkaufengehen nicht möglich. Darüber hinaus sei sie zur Einhaltung eines umfangreichen Diätplanes gezwungen, könne Wasch- und Putzmittel nicht verwenden und Zeitungen nicht lesen. Insgesamt sei ihr Aktionsraum sehr eingeschränkt. Nach Anhörung seines medizinischen Dienstes wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2010 zurück; bei der Bewertung des GdB seien die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit berücksichtigt worden.

Im nachfolgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Lüneburg hat die Klägerin die Festsetzung eines GdB von 100 sowie die Feststellung der Merkzeichen “G„, “B„ und “RF„ verlangt und zur Begründung im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt. Sie hat ergänzt, dass ihr eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu 100 % nicht möglich sei; bewege sie sich doch einmal in der Öffentlichkeit, benutze sie eine Atemmaske oder müsse sich zwei bis drei Tage...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge