Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Multiple Chemikalien-Sensitivität. vegetative Symptome ohne organischen Befund. Analogie zur GdB-Bewertung bei psychischen Störungen. medizinische Begutachtung. Selbstauskunft und vorgebrachte Beschwerden des behinderten Menschen. keine ungefilterte Übernahme der Angaben. Erforderlichkeit der Objektivierung und kritischen Auseinandersetzung. Merkzeichen G. erhebliche Gehbehinderung. Chemikalienunverträglichkeit. keine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Bewertung eines MCS im Schwerbehindertenrecht.

 

Orientierungssatz

1. Handelt es sich bei den Beschwerden, die durch die MCS-Erkrankung bedingt sind, vornehmlich um vegetative Symptome, denen kein bzw primär kein organischer Befund zugrunde liegt, ist der GdB - auch wenn es sich bei der MCS nicht um eine psychische Erkrankung handeln sollte - in Analogie zu Teil B Nr 3.7 VMG (Anlage zu § 2 VersMedV) zu beurteilen.

2. Eine allein von den Angaben des antragstellenden behinderten Menschen ausgehende Bewertung des Ausmaßes der Beeinträchtigung kann nicht Grundlage einer nachvollziehbaren GdB-Bewertung sein.

3. Deshalb muss im Rahmen der medizinischen Begutachtung eine Objektivierung oder kritische Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Beschwerden des behinderten Menschen erfolgen.

4. Das Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) kommt nicht in Betracht, wenn das Unvermögen zum Ortswechsel nur auf einer besonderen Chemikalienunverträglichkeit (hier MCS) beruht und nicht Folge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens ist.

 

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. April 2018 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) sowie um ihren Anspruch auf Feststellung der Merkzeichen G, B und RF nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX).

Bei der Klägerin war mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid vom 10. März 2015 ein GdB von 70 festgestellt worden. Dem hatten als Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegen:

1. Lungenfunktionseinschränkung, Allergien und Überempfindlichkeit gegenüber Chemikalien, Bronchialasthma, Reizhusten, multiple chemische Überempfindlichkeit (Einzel-GdB 50),

2. depressive Störung (Einzel-GdB 30),

3. Funktionsbehinderung Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, chronisches Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 20).

Im April 2015 beantragte die Klägerin, die bei ihr vorliegende Behinderung neu festzustellen und ihr einen höheren GdB sowie die Merkzeichen G, B und RF zuzuerkennen.

Das beklagte Land lehnte den Neufeststellungsantrag der Klägerin nach Ermittlung und Beteiligung seines ärztlichen Dienstes mit Bescheid vom 5. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2015 ab.

Im Dezember 2015 ist Klage erhoben worden.

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte des Arztes H. sowie der Neurologin, Psychiaterin und Homöopathin Dr. I. beigezogen. Hierzu hat das beklagte Land Stellungnahmen seines medizinischen Dienstes (Dr. J.) vorgelegt. Diese hat unter anderem darauf hingewiesen, den Ausführungen von Dr. I. und dem Arzt H. könne aus schulmedizinischer Sicht nicht gefolgt werden.

Das SG hat die Klage ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 19. April 2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, an rein körperlichen Befunden habe sich bei der Klägerin nichts nachweisen lassen, was zu einer höheren Bewertung des GdB führe. Die Ausführungen der behandelnden Ärzte der Klägerin seien schulmedizinisch nicht nachzuvollziehen.

Gegen das am 12. Juni 2018 zugestellte Urteil ist am 26. Juni 2018 Berufung eingelegt worden. Zur deren Begründung macht die Klägerin zusammenfassend im Wesentlichen geltend, die bei ihr vorliegende MCS führe zu ganz erheblichen Beeinträchtigungen in ihrer Fähigkeit am sozialen Leben teilzuhaben. Diesen Einschränkungen würden schon die Regelungen in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) nicht gerecht, da sie den derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Stand nicht mehr korrekt wiedergäben. Ergänzend hat sich die Klägerin wiederholt auf weitere Stellungnahmen der sie behandelnden Ärzte (H., Dr. I.) sowie auf das vom Senat eingeholte Gutachten von Professor Dr. K. gestützt. Zudem hat die Klägerin ausführliche handschriftliche Aufzeichnungen über ihre Beschwerden vorgelegt.

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zunächst ein Gutachten des Orthopäden und Rheumatologen Dr. L. vom 2. Februar 2019 veranlasst. Dieser ist aufgrund der ausführlichen Untersuchung der Klägerin am 1. Februar 2019 auf seinem Fachgebiet unter anderem zu folgenden Einschätzungen gelangt: Im Hinblick auf die Halswirbelsäule der Klägerin liege...

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