Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Sonderregelung aus Anlass der COVID-19-Pandemie. Angemessenheitsfiktion. Anwendungsbereich. Umzug aus einer unangemessenen in eine noch teurere und größere Unterkunft ohne Zusicherung während des Leistungsbezuges
Leitsatz (amtlich)
1. Die für Zeiträume ab dem 1. März 2020 eingeführte Vorschrift des § 67 Abs 3 SGB II enthält keine allgemeine Freigabe für die grenzenlose Übernahme von Kosten der Unterkunft und Heizung. § 67 Abs 3 SGB II ist eine aus Anlass der Corona-Pandemie geschaffene, für Zeiträume ab dem 1. März 2020 geltende Sonderregelung, um die Auswirkungen der Verbreitung des Virus auf Wirtschaft und Beschäftigung abzufedern. Sie bezieht sich auf den Erhalt von Wohnraum und erfasst keine Neuanmietungen und Umzüge von Leistungsempfängern innerhalb des zeitlichen Geltungszeitraums der Norm. § 67 Abs 3 SGB II verschafft deshalb keinen Anspruch auf die Übernahme tatsächlicher KdU nach dem Umzug eines Leistungsempfängers in eine unangemessene Wohnung.
2. Ein SGB II-Leistungsempfänger, dessen unangemessen hohe Kosten bereits nach § 67 Abs 3 SGB II in tatsächlicher Höhe übernommen werden, und der in eine noch teurere und noch größere Wohnung umzieht, hat aus § 67 Abs 3 SGB II keinen Anspruch auf Übernahme der dann noch höheren anfallenden KdU.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. November 2022 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (LSL) nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Zeitraum März bis August 2022. Der Streit beschränkt sich dabei auf die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH).
Die 1977 geborene Klägerin zu 1 ist polnische Staatsangehörige, die 2008 geborene Klägerin zu 2, nach Aktenlage griechische Staatsangehörige, ihr Adoptivkind (Dokumente 15, 52 der elektronischen Verwaltungsakte des Beklagten - VA). Die Klägerin zu 1 erhielt u.a von Januar bis Oktober 2020 SGB II-Leistungen von dem Beklagten. Die Klägerin zu 2 ist schwerbehindert (GdB 50, Mz H ab 11. Oktober 2016, Schwerbehindertenausweis unter Dokument 22 VA). Sie bezog den Antragsangaben zufolge Kindergeld in Höhe von 219 €, Pflegegeld in Höhe von 545 € (Dokument 37, Seite 210 VA) und bis Mai 2021 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII, Dokument 12 VA) in unterschiedlicher Höhe, ca. 320 € (Dokument 5, Seite 2, Dokument 56 = Seite 279 VA). Über Vermögen verfügten die Klägerinnen ausweislich ihrer Angaben im Leistungsantrag nicht.
Die Klägerin zu 1 ist nach eigenen Angaben als Reinigungskraft bei einer J. in K. im Umfang von einer Stunde wöchentlich tätig (monatliches Einkommen 60 €, vgl. Dokumente 5, 11 VA). Im Herbst 2020 nahm sie ein (weiteres) Arbeitsverhältnis als Reinigungskraft auf, das innerhalb der Probezeit zum 24. März 2021 wieder gekündigt wurde. In der Zeit dieser Tätigkeit (ca. November 2020 bis Februar 2021) stand sie nach Aktenlage vorübergehend nicht im Leistungsbezug.
Die Klägerinnen waren zum 1. September 2019 innerhalb der Stadt K. in eine Neubau-Zweizimmerwohnung von 60 m² Wohnfläche zum Preis von insgesamt 650 € (510 € Nettokaltmiete, 70 € Betriebskostenvorauszahlung, 70 € Heizkostenvorauszahlung, Dokument 16 VA) eingezogen. Bereits in diese Wohnung waren sie nach Aktenlage ohne eine Zusicherung und ohne Angabe von Gründen eingezogen, so dass die Kosten zunächst auf die bisherigen Kosten in Höhe von 397,50 € Bruttokaltmiete gedeckelt wurden (vgl. Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2021, Dokument 103 f., Seite 467, 471 VA). Anschließend bezog die Klägerin zu 1. kurzzeitig keine SGB II-Leistungen (s.o.: November 2020 - Februar 2021) mit der Folge, dass bei der erneuten Bewilligung ab März 2021 wegen § 67 SGB II die tatsächlichen KdUH der Wohnung anerkannt wurden.
Die Klägerinnen beantragten wie bereits erwähnt im Februar 2021 wieder LSL bei dem Beklagten. Im Rahmen der folgenden Prüfung stellte der Beklagte fest, dass angemessen für 2 Personen eine Bruttokaltmiete in Höhe von 430 € wäre gegenüber der tatsächlichen Bruttokaltmiete von 580 €. Der Beklagte bewilligte den Klägerinnen mit Bescheiden vom 6. April, 22. April, 20. Mai und 21. Mai 2021 LSL für die Zeit von März bis August 2021, dabei berücksichtigte er nun - wie gerade ausgeführt wegen der zuvor erfolgten kurzzeitigen Leistungsunterbrechung - die tatsächlichen KdUH.
Einem Aktenvermerk vom 15. Juli 2021 zufolge teilte die Klägerin zu 1. telefonisch mit, dass die derzeitige Wohnung ihr zu teuer sei. Sie habe bereits eine neue Wohnung in Aussicht, die aber noch teurer sei als die aktuelle Wohnung. Der Klägerin zu 1. wurde mitgeteilt, dass bereits die jetzige Wohnung nicht angemessen sei, jedoch aufgrund der Coronaregelungen bislang berücksichtigt werde. Eine Zusicherung für den Umzug in...