Entscheidungsstichwort (Thema)
Beratungsverschulden und Ablauf des Vierjahreszeitraumes in § 147 Abs 2 SGB III
Leitsatz (amtlich)
Sind nach Entstehung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld vier Jahre verstrichen, ist der Anspruch nicht (wie bei einem Erlöschenstatbestand allein durch Eintritt einer auflösenden Bedingung oder durch Zeitablauf) kraft Gesetzes vernichtet. Es bedarf einer Entscheidung darüber, ob sich der weiterhin dem Grunde nach existierende Grundanspruch zu einem Zahlungsanspruch manifestiert. Diese Entscheidung ist von den Gerichten in vollem Umfang auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
Auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Zeiträume in § 124 SGB III (Rahmenfrist), § 127 Abs 4 SGB III (Verlängerung der Anspruchsdauer) und § 196 SGB III (Erlöschen des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe) kann der Vier-Jahres-Zeitraum in § 147 Abs 2 SGB III nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung verlängert werden. Es liegt keine planwidrige Gesetzeslücke vor.
Es verstößt nicht gegen Art 3 Satz 1 des Grundgesetzes, dass ein Streckungstatbestand im Sinne von § 124 Abs 3 SGB III, soweit dieser vor Entstehen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld liegt, die Anwartschaft für bis zu zwei Jahre (bei einer selbständigen Tätigkeit) oder sogar auf unbegrenzte Dauer (bei Pflege eines Angehörigen) nicht beeinträchtigt, derselbe Tatbestand jedoch nach Eintritt der Arbeitslosigkeit dazu führen kann, dass der Anspruch nicht mehr geltend gemacht werden kann.
Wird ein Restanspruch auf Arbeitslosengeld außerhalb der Frist des § 147 Abs 2 SGB III geltend gemacht, ist es der Arbeitsverwaltung verwehrt, sich auf den Zeitablauf zu berufen, wenn sie sich dadurch in Widerspruch zu früheren Erklärungen setzt (Verbot des venire contra factum proprium). Das kann der Fall sein, wenn das verspätete Geltendmachen wegen eines Beratungsmangels erfolgt ist.
Revision von Beklagter eingelegt (B 7 AL 26/03 R) und wieder zurückgenommen
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 19. Oktober 2001 sowie der Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 1999 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab dem 14. Juni 1999 Arbeitslosengeld zu bewilligen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld (Alg) nach Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nicht mehr geltend gemacht werden kann.
Der im August 1946 geborene Kläger war seit dem 1. Januar 1990 bei der Firma F. beitragspflichtig beschäftigt. Das Beschäftigungsverhältnis endete aufgrund fristloser Kündigung des Arbeitgebers zum 31. Oktober 1994. Das folgende Kündigungsschutzverfahren endete durch gerichtlichen Vergleich vor dem Arbeitsgericht G. (ArbG) vom 26. Januar 1998, der auszugsweise folgenden Wortlaut hat:
1. Die Parteien sind sich darüber einig, dass ihr Arbeitsverhältnis aufgrund fristgerechter betriebsbedingter Kündigung vom 26. Oktober 1994 zum 30. Juni 1995 geendet hat.
2. Die Beklagte verpflichtet sich, für den Zeitraum 1. November 1994 bis 30. Juni 1995 die vertragsgemäße Vergütung in Höhe von 7.850,00 DM brutto abzüglich der übergeleiteten Ansprüche auf Arbeitslosengeld für denselben Zeitraum an den Kläger zu zahlen, spätestens am 31. März 1998. Ein 13. Gehalt wird nicht gezahlt.”
Eine Zahlung durch die Firma F. erfolgte nicht. Am 3. April 1998 wurde ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der Firma F. mangels Masse abgelehnt. Auf seinen am 29. April 1998 gestellten Antrag erhielt der Kläger für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1995 Konkursausfallgeld (Kaug) nach einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von 7.850,00 DM in Höhe von insgesamt 13.976,82 DM.
Bereits am 28. Oktober 1994 hatte sich der Kläger mit Wirkung zum 1. November 1994 arbeitslos gemeldet. Aufgrund bestehender Arbeitsunfähigkeit erhielt er vom 1. November 1994 bis 26. Februar 1995 Krankengeld. Am 27. Februar 1995 meldete sich der Kläger erneut bei der Beklagten und beantragte Alg. Dieses wurde ihm mit Bescheid vom 14. März 1995 vorläufig für die Dauer von 429 Tagen nach einem der Beitragsbemessungsgrenze entsprechenden Bemessungsentgelt von 1.820,00 DM bewilligt.
Gegenüber der Firma F. machte die Beklagte einen Anspruchsübergang nach § 117 Abs 4 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) wegen des für die Zeit vom 27. Februar bis 30. Juni 1995 gezahlten Alg geltend. Eine Erstattung erfolgte nicht. Wegen des Konkurses der Firma wurde die Forderung am 27. Mai 1998 niedergeschlagen (Bl 129 VA).
Am 1. September 1995 nahm der Kläger eine selbständige Tätigkeit als Buchhändler auf und meldete sich aus dem Leistungsbezug ab. Am 23. Juni 1998 sprach er persönlich bei der Beklagten vor und fragte nach der endgültigen Festsetzung der Alg-Bewilligung. Gemäß eines Beratungsvermerks (Bl 119 VA) sollte dem Kläger noch ein ”abschließender rechtsbehelfsfähiger Änderungsbescheid” wegen der Ans...