Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. Entschädigungsleistungen aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. dissoziative Identitätsstörung. Beweiserleichterung gemäß § 15 KOVVfG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Sexueller Missbrauch in der Kindheit kann zu dissoziativen Störungen bzw posttraumatischen Syndromen führen. Dies ergibt sich ua aus Nr 71 der "Anhaltspunkte".

2. Bei Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung können unvollständige und so genannte verzögerte Erinnerungen häufig angetroffen werden, ohne dass eine solche Verzögerung als Indiz für fehlende Glaubwürdigkeit angesehen werden kann. Eine Anwendung des § 15 KOVVfG ist hierdurch nicht ausgeschlossen.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. Juni 2004 aufgehoben.

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 1999 verurteilt,

bei der Klägerin das Vorliegen einer “dissoziativen Identitätsstörung„ als Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und ab 1. Januar 1999 Leistungen nach einer MdE von 60 v. H. zu erbringen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist vor allem streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit hat.

Die am 16. Dezember 1959 geborene Klägerin, bei der nach dem Schwerbehindertengesetz durch Bescheid des Versorgungsamts Oldenburg vom 2. November 1994 ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt worden ist, bezieht seit August 1996 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie durchlief von 1974 bis 1977 eine Ausbildung zur Friseurin und war als solche bis 1985 tätig. In den Jahren 1985 bis 1987 hielt sie sich in einem Kloster auf und arbeitete dort teilweise mit psychisch Kranken. Von 1987 bis 1990 ließ sie sich zur Ergotherapeutin umschulen. Als solche war sie - mit Unterbrechungen - bis zum Rentenbeginn beruflich tätig.

Einen ersten Antrag nach dem OEG stellte die Klägerin im Juni 1997. Sie gab an, in den Jahren 1961 bis 1972 anhaltend und wiederholt sexuell missbraucht worden zu sein, und zwar durch den Vater und mehrere Nachbarn. Der Beklagte zog daraufhin mehrere ärztliche Berichte bei. In dem Entlassungsbericht vom 16. August 1993 über ein in der I. -Klinik, J., in der Zeit vom 10. März bis 3. August 1993 durchgeführtes Heilverfahren ist die Diagnose “neurotische Depression mit Angstsymptomatik„ enthalten. Nach dem Bericht gab die Klägerin an, in einer ambulanten Psychotherapie sei der Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch einen Nachbarn aufgetaucht. In dem Entlassungsbericht ist weiter angegeben, während der Therapie sei deutlich geworden, dass neben dem von der Klägerin erwähnten Missbrauch schon seit dem frühesten Kindesalter mehrfache Missbräuche durch Familienmitglieder stattgefunden hätten. Ein weiterer Entlassungsbericht dieser Klinik vom 8. Juni 1994 (stationäre Behandlung vom 6. Januar bis 31. Mai 1994) geht von der Diagnose eines posttraumatischen Stresssyndroms mit autoaggressiven und dissoziativen Zügen bei Borderline-Persönlichkeit aus. Die Klägerin wurde sodann in der gleichen Klinik erneut vom 29. März bis 22. September 1995 behandelt. Nach dem Entlassungsbericht vom 25. Oktober 1995 lag eine depressive Krise bei posttraumatischer Belastungsreaktion mit dissoziativer Störung der Persönlichkeitsentwicklung vor. In der Beschreibung des Therapieverlaufs findet sich der Hinweis, eine Erinnerungsarbeit hinsichtlich sexuellen Missbrauchs und Misshandlungen in der Kindheit und Jugend sei nicht möglich gewesen. Die Klägerin habe immer wieder daran gezweifelt, ob diese überhaupt stattgefunden hätten. Nachdem der Beklagte versucht hatte, Familienangehörige der Klägerin sowie sonstige mögliche Zeugen ausfindig zu machen, nahm die Klägerin mit Schreiben vom 9. September 1997 den Antrag nach dem OEG zurück; sie gab dabei an, sie habe Angst vor einer Konfrontation mit den Eltern.

Einen zweiten Antrag stellte die Klägerin im Januar 1999. Der Beklagte zog neben einem Befundbericht der Neurologin/Psychiaterin Dr. K. vom 1. März 1999 zwei Entlassungsberichte der Psychosomatischen Abteilung der L. -Klinik, M., über Behandlungen in der Zeit vom 1. Februar bis 25. März 1998 und vom 2. Dezember 1998 bis 27. Januar 1999 bei. In dem Bericht dieser Klinik vom 31. März 1998 findet sich die Schilderung der Klägerin, es habe Übergriffe durch einen Onkel bereits im Kleinkindalter sowie spätere sexuelle Traumatisierungen durch den Vater und Nachbarn gegeben. Unter “Psychodynamische Hypothesen„ wird angegeben, die bei der Klägerin entwickelte Fähigkeit zur Dissoziation habe ihr für lange Zeit das Überleben gesichert. In dem weiteren Bericht vom 12. Februar 1999 heißt es u. a., das Beschwerdebild sei von einer Ich-strukturellen frühen Störung mit dissoziativen Anteilen bei Zustand na...

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