Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch und/oder sexuelle Belästigung in der Kindheit. dissoziative Identitätsstörung. tätlicher Angriff. Beweis. Beweiserleichterung. medizinische Diagnose. psychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten und eigene Erwägungen des Gerichts

 

Orientierungssatz

1. Zum Nichtvorliegen eines Anspruchs auf Gewaltopferentschädigung wegen sexuellen Missbrauchs und/oder sexueller Belästigung in der Kindheit, wenn - unter Berücksichtigung des eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachtens sowie der eigenen Erwägungen des erkennenden Senats - ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG nicht nachgewiesen wurde.

2. Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung und in Übereinstimmung mit dem 13. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05) davon aus, dass aus einer Diagnose (hier: dissoziative Identitätsstörung) keine Ableitungen auf das Vorliegen einer sexuellen Missbrauchserfahrung in der Biographie möglich sind und schon gar nicht auf eine spezifische Person als möglichen Täter.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 17.04.2013; Aktenzeichen B 9 V 3/12 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des BVG.

Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter, die ab 1953 mit ihrem zweiten Ehemann, I., zusammenlebte. Der leibliche Vater der Klägerin hatte sich bereits kurz nach der Geburt der Klägerin von ihrer Mutter getrennt.

Gegen den Stiefvater der Klägerin, I., wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Am 12. März 1962 verstarb der Stiefvater der Klägerin unter ungeklärten Umständen. Wenige Tage danach wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter entfernt und dem Vater, der mittlerweile mit seiner neuen Ehefrau in K. lebte, zugeführt.

Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren leiblichen Vater eine Strafanzeige. Ihr Vater habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater der Klägerin wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt J. und ab dem 31. August 1967 der Ev. Jugendhilfe e.V. des Amtes für Diakonie J. übertragen.

Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Über den Besuch einer Abendschule holte sie den Hauptschulabschluss nach, arbeitete sodann zunächst als diakonische Helferin in einem Haushalt, später in K. in der Lobetaleinrichtung im Altenheim und bei Behinderten, wo sie eine einjährige Ausbildung zur Heilerziehungshelferin erfolgreich absolvierte. 1976 heiratete sie. Aus der Ehe gingen zwischen 1977 und 1981 drei Kinder hervor. Später arbeitete sie nach eigenen Angaben mit Unterbrechungen als Altenpflegehelferin, als Reinigungskraft oder verrichtete andere Hilfstätigkeiten. Ab 2005 arbeitete sie nicht mehr in einem regulären Arbeitsverhältnis.

Im Jahr 2000 absolvierte die Klägerin eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der L. -Klinik in M. Dort wurde neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihr diagnostiziert. Im Anschluss an die stationäre Reha-Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin N. auf. Diese stellte die Verdachtsdiagnose einer dissoziativen Identitätsstörung und veranlasste im Jahr 2002 eine differenzialdiagnostische Abklärung dieses Verdachts in der O. (P.), Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie. Dort wurde die Diagnose dissoziative Identitätsstörung bestätigt.

Am 3. Mai 2005 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Opferentschädigung. Sie begründete den Antrag damit, dass sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Sie habe aufgrund dieser Taten seelische Leiden und eine multiple Persönlichkeitsstörung davongetragen und verlange, diese als Schädigungsfolgen nach dem OEG anzuerkennen.

Im Verwaltungsverfahren legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin N. zusammengetragen hatte. Unter anderem ergab sich daraus, dass die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft gegen den Vater aus dem Jahr 1967 und etwaige Gerichtsakten hierzu nicht mehr vorhanden sind.

Der Beklagte holte zur Aufklärung des Sachverhalts medizinische Unterlagen ein, u.a. einen Befundbericht der behandelnden psychologischen Psychotherapeutin N. vom 27. August 2005 sowie Berichte der P., Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, vom 2. Mai 2002 sowie 4. Juli 2002. Er befragte schriftlich Fra...

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