Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Abgrenzung zur Kinder- und Jugendhilfe. Vorliegen einer wesentlichen geistigen Behinderung. Autismusspektrumstörung. Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung. Autismus-Therapie. Bedarfsdeckung durch die Schule
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einer Autismusspektrumsstörung im Sinne eines frühkindlichen Autismus kann neben einer seelischen Behinderung iS des § 3 Eingliederungshilfe-VO (juris: BSHG§47V) auch eine geistige iS des § 2 Eingliederungshilfe-VO bestehen, insbesondere bei anderweitigen Schädigungen der Körperstrukturen oder -funktionen (mit einhergehender Intelligenzminderung).
2. Soweit eine Autismusspektrumsstörung sowohl eine seelische als auch eine geistige Behinderung iS der §§ 2, 3 Eingliederungshilfe-VO darstellt, kann im Einzelfall (auch) ein Anspruch auf Kostenübernahme für eine ambulante Autismus-Therapie in Form der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht gemäß § 19 Abs 3 SGB XII iVm §§ 53, 54 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB XII iVm § 12 Nr 1 Eingliederungshilfe-VO bestehen (Fortführung von LSG Celle-Bremen vom 7.12.2017 - L 8 SO 206/17 B ER = juris RdNr 23).
3. Eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers außerhalb des Kernbereichs der pädagogischen Arbeit der Schule ist in aller Regel zu bejahen, solange und soweit die Schule eine entsprechende Hilfe nicht gewährt (vgl auch BSG vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R = BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, RdNr 25).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 25.9.2018 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für eine von Juni 2016 bis Mai 2018 ambulant durchgeführte Autismus-Therapie in Höhe von etwa 7.400,00 €.
Bei der 2007 geborenen Klägerin ist eine schwer ausgeprägte Autismusspektrumsstörung im Sinne eines frühkindlichen Autismus (ICD-10 F 84.0), eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD10: F90.0) und eine leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung (ICD10: F70.1) diagnostiziert (Kurzbericht des Dr. F., der Ärztin G. und der Dipl. Psychologin H. des LVR-Klinikverbunds, Viersen, vom 10.7.2018; im Jahr 2016 ist bei der Klägerin allerdings ein Gesamt-IQ von 40 erhoben worden, vgl. Befundbericht des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. I. vom 2.4.2016). Sie ist als Schwerbehinderte mit einem GdB von 80 mit den Merkzeichen B, G und H anerkannt und bezieht Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe 2 (Bescheid der AOK Bremen/Bremerhaven Pflegekasse vom 31.10.2014). Sie lebt gemeinsam mit ihren zwei älteren Geschwistern bei ihren Eltern im Stadtgebiet der Beklagten und besuchte dort von Mitte 2014 bis Mitte 2018 eine Inklusionsklasse entsprechend dem bei ihr festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf für den Bereich Wahrnehmung und Entwicklung (Bescheid der Beklagten - Senatorin für Bildung und Wissenschaft - vom 8.5.2014) der Grundschule J.. Ihre Klasse bestand aus 20 Schülerinnen und Schülern; hiervon hatten vier Kinder - einschließlich die Klägerin - einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Wahrnehmung und Entwicklung. Der Unterricht erfolgte mit einer Lehrkraft, einem Sonderpädagogen und zwei pädagogischen Mitarbeitern sowie einer Klassenassistenz. Zusätzlich wurde der Klägerin eine individuelle Assistenz zugeordnet (1:1 Betreuung).
Im Juli 2015 beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Eltern, und zusätzlich durch das Autismus-Therapiezentrum Autismus Bremen e.V. (im Weiteren Therapiezentrum) bei der Beklagten unter Vorlage einer Stellungnahme des Therapiezentrums vom 20.10.2015 (Dipl. Psychologe und Dipl. Sozialpädagoge K.) und von aktuellen Arztberichten des L., Gesundheit Nord Klinikum Bremen-Mitte die Übernahme der Kosten für eine ambulante Autismustherapie in einem durchschnittlichen Umfang von zwei bis drei Wochenstunden aus Mitteln der Sozialhilfe (SGB XII).
Nach Erstellung eines Gesamtplans nach § 58 SGB XII am 23.11.2015 und Einholung von Unterlagen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern der Klägerin lehnte die Beklagte den Antrag wegen vorrangig einzusetzenden Einkommens und Vermögens ab (Bescheid vom 17.3.2016). Den hiergegen erhobenen Widerspruch, mit dem die Erforderlichkeit der Therapie unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. I., Bremen, vom 2.4.2016, des Therapiezentrums vom 6.4.2016 (Dipl. Sozialpädagogin M.) und der Klassenlehrerin der Klägerin, Frau N., Grundschule J., Zentrum für unterstützende Pädagogik, vom 20.4.2016 (nochmals) geltend gemacht wurde, dass die Therapie eine Hilfe für eine angemessene Schulbildung und damit kostenprivilegiert sei, wies die Beklagte unter Bezugnahme auf eine fachliche Weisung des Amtes für Sozial...