Entscheidungsstichwort (Thema)
Wegfall des Arbeitslosengeld II. Sanktion. Verletzung von Pflichten aus dem Eingliederungsverwaltungsakt. Verfassungsmäßigkeit. Inzidentprüfung der Rechtmäßigkeit des Eingliederungsverwaltungsakts
Leitsatz (amtlich)
1. Aufgrund der im Falle von 100 %-Sanktionen bestehenden Möglichkeit der Inanspruchnahme von Sach- bzw geldwerten Leistungen, des sich aus dem Bezug von Sach- bzw geldwerten Leistungen ergebenden Krankenversicherungsschutzes sowie der Möglichkeit der Mietschuldenübernahme (zur Vermeidung eines Wohnungsverlustes) bestehen im Ergebnis keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine vorübergehende sanktionsbedingte vollständige Minderung des Arbeitslosengeldes II.
2. Die Verletzung von Pflichten aus einem Eingliederungs-Verwaltungsakt konnte auch nach § 31 Abs 1 S 1 Nr 1b SGB II in der bis zum 31.3.2011 geltenden Fassung sanktioniert werden. Der Geltungsbereich dieser Norm beschränkte sich nicht auf Verletzungen von Pflichten aus einer Eingliederungsvereinbarung.
3. Bei der gerichtlichen Überprüfung einer Sanktion wegen der Verletzung von Pflichten aus einem Eingliederungs-Verwaltungsakt ist die Rechtmäßigkeit des zugrundeliegenden Eingliederungs-Verwaltungsaktes inzident zu prüfen, wenn sich der Eingliederungs-Verwaltungsakt wegen Ablaufs seiner Geltungsdauer noch vor Eintritt der Bestandskraft nach § 39 Abs 2 Alt 4 SGB X erledigt hat.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 9. Januar 2013 (S 50 AS 59/09) aufgehoben, soweit es den Sanktionsbescheid vom 6. März 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 2009 betrifft.
Die Klage gegen den Sanktionsbescheid vom 6. März 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 2009 wird abgewiesen.
Kosten sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Für das erstinstanzliche Verfahren bleibt es bei der im Urteil vom 9. Januar 2013 getroffenen Kostenentscheidung.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Berufung des Beklagten richtet sich gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Lüneburg vom 9. Januar 2013, mit dem der gegenüber dem Kläger erlassene Sanktionsbescheid vom 6. März 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 2009 aufgehoben worden ist. Mit diesem Sanktionsbescheid hatte der Beklagte die dem Kläger zunächst bewilligten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 2009 vollständig, d.h. zu 100 % gemindert.
Der 1979 geborene Kläger stand im Jahr 2009 bereits seit langem im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Diese Leistungen wurden damals von den Rechtsvorgängern des Beklagten erbracht, d.h. einerseits vom Landkreis (LK) I. (insbesondere Kosten der Unterkunft und Heizung - KdUH -, vgl. § 6 Abs 1 Nr 2 SGB II in der damals geltenden Fassung, im Folgenden: alter Fassung - a.F.) und andererseits von der Bundesagentur für Arbeit (übrige Leistungen). Insoweit hatte die Bundesagentur für Arbeit (im Folgenden aufgrund der zum 1. Januar 2012 eingetretenen Rechtsnachfolge: der Beklagte) dem Kläger mit Bewilligungsbescheid vom 25. November 2008 Regelleistungen nach § 20 SGB II a.F. für den Bewilligungszeitraum Dezember 2008 bis Mai 2009 bewilligt, wobei der Zahlbetrag für die Monate Dezember 2008 bis Februar 2009 sanktionsbedingt von vornherein 0 EUR betrug. Für den Bewilligungszeitraum ab Juni 2009 hatte der Beklagte Regelleistungen nach § 20 SGB II a.F. mit Bescheid vom 29. April 2009 bewilligt, wobei der Zahlbetrag für den Monat Juni 2009 von vornherein 0 EUR betrug.
Gleichzeitig mit dem Bewilligungsbescheid vom 25. November 2008 hatte der Beklagte den Sanktionsbescheid vom 25. November 2008 erlassen (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2008), durch den das Arbeitslosengeld II des Klägers für die Zeit vom 1. Dezember 2008 bis 28. Februar 2009 vollständig, d.h. um 100 % gemindert worden war. In dem gegen diesen Sanktionsbescheid vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg geführten Klageverfahren S 29 AS 79/09 setzte das SG die Minderung auf 60 % herab, weil es sich bei dem sanktionierten Verhalten um die erste (und nicht bereits die zweite) wiederholte Pflichtverletzung gehandelt habe (vgl. S. 8 des Urteils des SG vom 19. Mai 2009 - S 29 AS 79/09 -). Die vom Kläger gegen dieses Urteil geführte Nichtzulassungsbeschwerde blieb erfolglos (Beschluss des 7. Senats des erkennenden Gerichts vom 19. Mai 2010 - L 7 AS 916/09 NZB -).
Bereits vor Erlass der Bewilligungs- und Sanktionsbescheide vom 25. November 2008 hatte der Beklagte mit Sanktionsbescheid vom 22. Mai 2008 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2008) das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Juni bis 31. August 2008 um 60 % der für ihn nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung abgesenkt (vgl. zur Reduzierung dieser Sanktion von ursprünglich 60 % auf 30 %: Urteil des SG Lünebu...