Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. häusliche Gewalt. Gewaltopferentschädigung. Versagung wegen Unbilligkeit. Verbleiben in gewaltbelasteter Beziehung. Kenntnis von Alkoholabhängigkeit und eifersuchtsbedingten Gewaltausbrüchen des Partners. Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Entziehung. Mitverursachung

 

Orientierungssatz

Hat sich das Opfer der konkret erkannten oder wenigstens leicht erkennbaren Gefahr weiterer körperlicher Übergriffe durch den alkoholabhängigen und zu eifersuchtsbedingten Gewaltausbrüchen neigenden Ehemann leichtfertig nicht entzogen, obwohl dies möglich und auch unter Berücksichtigung der individuellen Möglichkeiten zumutbar gewesen ist, ist eine Gewaltopferentschädigung gemäß § 2 Abs 1 S 1 OEG abzulehnen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 25.07.2019; Aktenzeichen B 9 V 3/19 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 26. Januar 2015 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.

Die 1962 geborene Klägerin beantragte im März 2012 bei dem Beklagten Leistungen nach dem OEG. Hierbei gab sie an, dass sie in der Zeit seit Februar 2010 mit I. (im Folgenden: Täter) verheiratet sei. Durch diesen sei es ihr gegenüber in der Zeit von Februar 2010 bis zum 9. Juli 2011 zu erheblichen Gewalttaten gekommen. Hieran sei auch die Tochter J. des Täters beteiligt gewesen. Die Klägerin habe dabei Prellungen, einen Nasenbeinbruch und eine Gehirnerschütterung erlitten. Sie leide noch unter Panikattacken, Verfolgungswahn und Depressionen. Der Beklagte zog Akten von der Staatsanwaltschaft Göttingen bei, aus denen sich mehrere Ermittlungsverfahren gegen den Täter wegen gegenüber der Klägerin begangener Tätlichkeiten ergaben, die zu zwei Verurteilungen des Täters geführt hatten. Der Beklagte lehnte sodann die Gewährung von Versorgung im Hinblick auf die geltend gemachten Misshandlungen durch den Täter mit Bescheid vom 28. September 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2013 ab. Zwar sei die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Die Leistungen seien ihr jedoch wegen Unbilligkeit gemäß § 2 OEG zu versagen, weil sie sich einer von ihr erkannten oder leichtfertig unerkannten Gefahr nicht entzogen habe, obwohl ihr dies jederzeit möglich und zumutbar gewesen sei.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Hildesheim erhoben, mit der sie unter Hinweis darauf Leistungen nach dem OEG begehrt hat, dass sie durch häusliche Gewalt erheblich geschädigt worden sei.

Im Termin der mündlichen Verhandlung vom 26. Januar 2015 hat das Sozialgericht die Klägerin ausführlich angehört. Sodann hat es mit Urteil vom selben Tag die Klage als unbegründet abgewiesen. Unstreitig sei die Klägerin Opfer von tätlichen Angriffen geworden. Der Beklagte habe aber zu Recht Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG versagt. Die Klägerin habe sich leichtfertig der erkannten Gefahr nicht entzogen. Bereits vor der Eheschließung sei sie mehrfach Opfer von Gewalttaten des Täters geworden. Es sei schwer nachvollziehbar, warum sie diesen dann im Februar 2010 überhaupt geheiratet habe, wenn ihr seine Aggressivität bereits vor der Hochzeit bekannt gewesen sei. Es sei auch nicht plausibel, warum sie nicht nach den ersten Vorfällen die Beziehung zu dem Täter endgültig beendet habe. Es lasse sich nicht feststellen, dass sie sich in einer ausweglosen Situation befunden habe. Trotz des von ihr behaupteten psychischen Drucks sei das Verhalten der Klägerin nicht alternativlos gewesen. Sie sei auf das ihr mehrfach von der Polizei unterbreitete Angebot nicht eingegangen, in ein Frauenhaus zu ziehen. Es sei deshalb nicht nachvollziehbar, warum sie nicht die mehrfach erwirkten Gewaltschutzanordnungen mit Hilfe von Polizei und Gericht durchzusetzen versucht habe.

Gegen das ihr am 13. Februar 2015 zugestellte Urteil wendet sich die am 6. März 2015 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung weist sie ergänzend darauf hin, dass eine anspruchsschädliche Mitverursachung nur anzunehmen sei, wenn solche Handlungen vorlägen, die in gleichem Maße wie die späteren Gewalttaten von der Rechtsordnung missbilligt würden. Daran fehle es. Allein der Umstand, dass die Gewalttaten vorhersehbar gewesen seien, sei nicht bedeutsam. Vielmehr sei eine Abwägung erforderlich, ob das Verhalten der Klägerin tatsächlich einen wesentlichen Tatbeitrag geleistet habe. Davon sei nicht auszugehen.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 26. Januar 2015 und den Bescheid des Beklagten vom 28. September 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2013 aufzuheben,

2. das beklagte Land zu verurteilen, ihr wegen der in ...

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