Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. sachlicher Zusammenhang. Handlungstendenz. Mitfahrer einer Fahrgemeinschaft. eigenwirtschaftliche Unterbrechung des Fahrers
Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der den Heimweg von seiner Arbeitsstätte in einer Fahrgemeinschaft zurücklegt, verliert seinen Unfallversicherungsschutz nicht, wenn der Fahrer die Fahrt aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbricht, er selbst in diesem Zeitpunkt aber schläft.
Orientierungssatz
Das Bestehen einer Fahrgemeinschaft begründet keinen eigenständigen Versicherungsschutz, sondern erweitert lediglich den Versicherungsschutz der nach § 8 Abs 2 Nr 2 Buchst b SGB VII versicherten Teilnehmer auf bestimmte Um- und Abwege. Sonstige Wirkungen einer Fahrgemeinschaft sieht die Vorschrift demgegenüber nicht vor; insbesondere gebietet sie weder unter allen Umständen die Annahme einer gemeinsamen Handlungstendenz aller Insassen noch ermöglicht sie eine Zurechnung der Handlungstendenz des Fahrers auf die übrigen Insassen. Vielmehr sind für jeden Insassen die allgemeinen Voraussetzungen des Versicherungsschutzes gesondert zu prüfen, so dass sich dabei ergeben kann, dass einzelne Insassen eines Fahrzeuges versichert sind, andere hingegen nicht.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 24. April 2013 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (AU).
Der in F. wohnhafte, als Aushilfsarbeiter in der Brand- und Wasserschadensanierung beschäftigte Kläger war im Oktober 2009 auf einer Baustelle in G. eingesetzt. Am 16. Oktober 2009 trat er nach Beendigung der Arbeit gemeinsam mit drei Kollegen den Heimweg mit einem PKW an. Fahrer war der Zeuge H., der für einen anderen Arbeitgeber auf derselben Baustelle arbeitete; weitere Mitfahrer waren die Zeugen I. und J.. Nach der ursprünglichen Planung sollte der in P… wohnhafte Zeuge H. die Mitfahrer bis zu seinem Wohnort mitnehmen. Von dort aus sollten der Kläger und die Zeugen I. und J., die ebenfalls in F. wohnten, von ihrem Chef nach Hause gefahren werden. Nachdem der Zeuge H. an der Anschlussstelle K. von der A2 abgefahren war, erhielt er telefonisch die Mitteilung, dass der Chef die Mitfahrer nicht übernehmen könne. Der Zeuge fuhr daraufhin erneut auf die A2 in Richtung L. auf, um den Kläger und die anderen Mitfahrer nach Hause zu bringen. Gegen 21:25 Uhr steuerte der Zeuge H. die Tankraststätte M. an. Zu diesem Zeitpunkt schlief der Kläger auf dem Beifahrersitz. Beim Bremsen im Einfahrtsbereich der Raststätte geriet der PKW ins Rutschen und prallte zunächst gegen eine am rechten Fahrbahnrand angebrachte Schutzplanke. Infolge des Aufpralls drehte sich das Fahrzeug und stieß mit der Beifahrerseite gegen einen in der Kurve des Einfahrtsbereichs abgestellten Sattelauflieger. Bei dem Unfall zog sich der Kläger ua eine ausgedehnte Mittelgesichtsfraktur mit Frakturen des Oberkiefers, des Jochbeins, des Orbitabodens und des Nasenbeins, eine Unterkiefertrümmerfraktur, Kieferwinkel- und Kiefergelenksfrakturen sowie multiple Schnittwunden des Mittelgesichts und ein Schädel-Hirn-Trauma zu (Entlassungsbrief des Klinikums L. vom 11. November 2009).
Die Beklagte zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft (StA) L. bei. Danach hatte der Zeuge H. bei der Polizei ausgesagt, dass er an der Raststätte abgefahren sei, um etwas zu trinken zu kaufen. Der Zeuge I. hatte bekundet, er und der Zeuge J. hätten auf der Rückbank gesessen und den Fahrer gebeten, an der nächsten Raststätte anzuhalten. Der Kläger selbst gab gegenüber der Polizei, der IKK Niedersachsen und dem behandelnden Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen Prof. Dr. N. jeweils an, er habe geschlafen und nichts mitbekommen, bevor das Auto plötzlich ins Schleudern geraten sei.
Mit Bescheid vom 9. September 2010 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines AU ab. Der Kläger habe sich am Unfalltag als Teilnehmer einer Fahrgemeinschaft auf dem Weg von der Arbeit nach Hause befunden. Der Fahrer und die beiden übrigen Mitfahrer hätten beschlossen, die Autobahn zu verlassen und die Raststätte anzufahren, um dort Getränke zu kaufen. Mit dem Befahren der Einfahrtspur zur Raststätte sei der öffentliche Verkehrsraum verlassen und ein Umweg genommen worden, für den kein Versicherungsschutz bestanden habe. Der Grund für die Wegeabweichung sei persönlicher Natur; betriebliche Gründe hierfür seien nicht zu erkennen. Mit dem Verlassen des direkten Weges hätten sich daher alle Beteiligten der Fahrgemeinschaft nicht mehr auf einem versicherten Weg befunden. Der Umstand, dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt geschlafen habe, ändere daran nichts. Zum einen habe sich der Kläger mit dem Einschlafen um die Möglichkeit der Einflussnahme auf den direkten Weg gebracht. Zum anderen sei bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass der Kläger sich auch im wac...