Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Berufung gegen Gerichtsbescheid. Zurückverweisung wegen wesentlichem Verfahrensmangel. fehlerhafte Annahme einer fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs 2 SGG. Antrag auf Kinderzuschlag. Rechtsschutzinteresse. notwendige Beiladung. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Ablage eines Schriftsatzes mit unklarem Aktenzeichen bei Parallelverfahren. Kenntnis des Kammervorsitzenden

 

Leitsatz (amtlich)

1. Einer Klageabweisung durch Prozessurteil als Voraussetzung für eine Zurückverweisung an das Sozialgericht nach § 159 Abs 1 S 1 SGG steht ein Urteil gleich, mit dem das Sozialgericht unzutreffend eine fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs 2 SGG festgestellt hat.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei einer fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs 2 SGG ist zu gewähren, wenn innerhalb der Frist ein Schriftsatz mit unklarem Aktenzeichen eingeht, dieser in das PKH-Heft eines Parallel-Klageverfahrens abgelegt wird und dieser Umstand dem Kammervorsitzenden bekannt ist.

 

Orientierungssatz

1. Im Streit um Leistungen nach dem SGB 2 bzw um die alternative Leistung Kinderzuschlag nach § 6a BKGG 1996 kann nur ausnahmsweise auf ein zwischenzeitlich entfallenes Rechtsschutzinteresse der klägerischen Partei geschlossen werden (vgl LSG Halle vom 16.6.2010 - L 5 AS 217/10).

2. Zur notwendigen Beiladung des Grundsicherungsträgers bei einem Antrag auf Kinderzuschlag.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 18. Mai 2016 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Bremen zurückverwiesen, welches auch über die Kosten des Berufungsverfahrens entscheiden wird.

 

Tatbestand

Mit der am 13. Oktober 2010 erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Ablehnungsentscheidung der Beklagten gewandt, keinen Kinderzuschlag für ihre vier Kinder für den Zeitraum Juli 2008 - September 2008 zu gewähren, weil die Mindesteinkommensgrenze gemäß § 6a Abs. 1 Nr. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) nicht erreicht sei. In den folgenden vier Jahren hat das angerufene Sozialgericht (SG) Bremen bis auf diverse “Schiebeverfügungen„ nichts Prozessförderndes veranlasst. Mit Verfügung vom 4. November 2014 wird die Klägerin nach einem Wechsel im Kammervorsitz an die Abgabe einer Klagebegründung erinnert. Nach Eingang von Stellungnahmen beider Beteiligten hat das SG diese zum beabsichtigten Erlass eines Gerichtsbescheides nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört. Mit weiterem Schreiben vom 2. Juni 2015 hat das SG mitgeteilt, an der Ankündigung nach § 105 SGG nicht mehr festhalten zu wollen und die Klägerin zu weiteren Auskünften aufgefordert. Mit Schriftsatz vom 28. Mai 2015 hat die Beklagte wegen eines zeitgleich laufenden Antragsverfahrens auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) die Beiladung des Jobcenters angeregt.

Mit Schreiben vom 1. September 2015 hat das SG unter Hinweis darauf, dass gemäß § 102 Abs. 2 SGG die Klage als zurückgenommen gilt, wenn die Klägerin länger als drei Monate das Verfahren nicht betreibt, die Klägerin aufgefordert, die Gehaltsabrechnungen und vollständige Kontoauszüge für den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zum 30. September 2008 sowie Belege über die gezahlten Kosten der Unterkunft und Heizung für diesen Zeitraum vorzulegen. Diese Verfügung ist am 5. September 2015 der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt worden. Mit Fax vom 8. Dezember 2015 hat die Klägerin Fotokopien von Lohnabrechnungen eingereicht, die schlecht lesbar sind. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2015 hat das SG den Beteiligten mitgeteilt, dass das Verfahren gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG im Prozessregister als durch “Klagerücknahme erledigt„ ausgetragen worden sei, weil die Dreimonatsfrist am 7. Dezember 2015 abgelaufen und das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin erst am 8. Dezember 2015 eingegangen sei.

Am 7. Januar 2015 hat die Klägerin die Fortsetzung des Verfahrens, hilfsweise die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Ihre Prozessbevollmächtigte habe im Fristkalender eine Erledigungsfrist bis zum 16. November 2015 eingetragen, die später als erledigt durchgestrichen worden sei. Die Prozessbevollmächtigte erinnere sich daran, die Unterlagen nebst Kopien, die sie von der Klägerin davor auf anders farbigem Papier als Kopie erhalten habe, eingereicht zu haben. Die Unterlagen müssten folglich spätestens bis zum 19. November 2015 im Postfach angekommen sein. Vermutlich seien diese Unterlagen irrtümlich in das Prozesskostenhilfe-Heft einsortiert worden. Fotokopien dieser Unterlagen werden deshalb erneut beigefügt.

Mit Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2016 stellt das SG Bremen fest, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme beendet worden sei. Auf die Beitreibungsaufforderung gemäß § 102 Abs. 2 SGG vom 1. September 2015 habe die Klägerin keinerlei Reaktionen gezeigt. Hiergegen richtet sich die am 13. Juni 2016 eingegangene Berufung der Klägerin.

Die Klägerin be...

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