Entscheidungsstichwort (Thema)
Erziehungsgeld. nachträglicher Bezug von Arbeitslosengeld. rückwirkender Wegfall des Erziehungsgeldanspruchs. Benennung einer fehlerhaften Rechtsgrundlage durch die Erziehungsgeldbehörde. Erforderlichkeit eines aufhebenden Verwaltungsaktes. Vertrauensschutz. atypischer Fall. Ermessen. gerichtliche Nachprüfbarkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Eines aufhebenden Verwaltungsaktes bedarf es auch dann, wenn klare gesetzliche Regelungen den Anspruch auf Erziehungsgeld entfallen lassen.
2. Die Bezeichnung einer unzutreffenden Eingriffsermächtigung durch die Erziehungsgeldbehörde ist unschädlich, weil das Sozialgericht bei seiner umfassenden Prüfung des Prozessstoffs an die rechtlichen Erwägungen der Behörde nicht gebunden ist.
3. Die im BErzGG gewählte "Kollisionslösung" bei gleichzeitigem Bezug zweier Sozialleistungen wird von § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 mit erfasst.
Orientierungssatz
1. Soweit einer der in § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 genannten Tatbestände - wie hier der der Nr 3 - vorliegt, ist der Beklagte für den Regelfall ("soll") verpflichtet, den Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben (vgl BSG vom 25.1.1994 - 7 RAr 14/93 = SozR 3-1300 § 48 Nr 32 = BSGE 74, 20). Nur bei atypischen Fällen räumt die Sollvorschrift der Behörde eine Ermessenskompetenz zur Bescheidaufhebung ein. Dabei ist anerkannt, dass die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht bereits zur Ermessensausübung gehört. Die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens eines atypischen Falles hat das Gericht vielmehr voll zu überprüfen (vgl BSG vom 11.2.1988 - 7 RAr 55/86 = SozR 1300 § 48 SGB 10 Nr 44).
2. Nach Sinn und Zweck des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 kommt es für die Aufhebung nur auf den Umstand des Anspruchswegfalls, nicht aber darauf an, ob ein Verschulden oder Bösgläubigkeit vorlag. Diese Fälle werden von Nrn 2 und 4 erfasst. Das SGB 10 gesteht dem Betroffenen beim Zusammentreffen von Einkommen und von Sozialleistungen, die als Lohnersatz fungieren oder nach Bedürftigkeit gewährt werden, keinen besonderen Vertrauensschutz zu. Hiervon ausgehend kann ein atypischer Fall nur dann angenommen werden, wenn die mit einer Aufhebung nach § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 ohnehin schon verbundene Härte besonders unbillig erscheint (vgl BSG vom 24.3.1983 - 10 RKg 17/82 = SozR 5870 § 2 Nr 30, 11.2.1988 - 7 RAr 55/86 = SozR 1300 § 48 Nr 44).
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Beklagte berechtigt war, einen Bescheid über die Gewährung von Erziehungsgeld (Eg) rückwirkend aufzuheben und bereits erbrachte Leistungen zurückzufordern.
Die Klägerin ist die Mutter des in ihrem Haushalt lebenden Kindes N K, das am 27. Dezember 1996 geboren wurde. Am 7. November 1997 hatte sie bei dem Beklagten für den Zeitraum vom dreizehnten bis zum vierundzwanzigsten Lebensmonat die Gewährung von Eg beantragt. Das Antragsformular hatte folgende, von der Klägerin unterschriebene Erklärung enthalten:
Änderungen, die für den Anspruch auf Erziehungsgeld von Bedeutung sind, zB ... Antrag auf Arbeitslosengeld ..., werde ich der zuständigen Erziehungsgeldstelle unverzüglich mitteilen. Ich bin mir im Klaren, dass ... zu Unrecht empfangenes Erziehungsgeld zurückerstattet werden muss.
Mit Bescheid vom 24. November 1997 war der Klägerin Eg für die Zeit ab 27. Dezember 1997 in voller Höhe gewährt worden, da im maßgeblichen Kalenderjahr kein zu berücksichtigendes Einkommen vorhanden war. Der Bescheid enthielt folgenden formularmäßigen Hinweis:
Ich weise Sie darauf hin, dass Sie als Empfängerin einer Sozialleistung ... verpflichtet sind, mir alle Änderungen in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Erziehungsgeld maßgeblich sind, unverzüglich mitzuteilen. Hierzu zählt insbesondere, dass Sie anzeigen müssen, wenn Sie ... eine Lohnersatzleistung (zB ... Arbeitslosengeld ...) erhalten.
Mit Bescheid des Arbeitsamtes (ArbA) W vom 26. März 1998 wurde der Klägerin rückwirkend ab 1. Januar 1998 Arbeitslosengeld (Alg) für eine Anspruchsdauer von 180 Kalendertagen bewilligt. Davon setzte das ArbA W den Beklagten mit einem bei diesem am 12. März 1998 eingegangenen Schreiben in Kenntnis. Mit Bescheid vom 23. April 1998 hob der Beklagte daraufhin, ohne der Klägerin zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben, den Bewilligungsbescheid auf. Die Zahlung von Eg sei für die Zeit nach Ablauf des dreizehnten Lebensmonats am 26. Januar 1998 einzustellen. Wegen des Bezuges von Alg seit dem 1. Januar 1998 sei die Gewährung von Eg nach § 1 Abs 1 Nr 4 iVm § 2 Abs 2 Nr 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) ausgeschlossen. Gleichzeitig forderte der Beklagte die für den Zeitraum vom 27. Januar 1998 bis 26. April 1998 überzahlten Beträge in Höhe von DM 1.800 zurück. Dagegen wandte sich die Klägerin mit dem Widerspruch. Nach Antritt der Trainingsmaßnahme habe sie den Beklagten in dem Zeitraum vom 19. Januar 1998 bis 31. Januar 1998 telefonisch darüber informiert, dass gegebenenfalls ein Anspruch auf Alg bestehe. Dabei sei ihr -- der Klägerin -- gesagt worde...