Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenübernahme eines Rollstuhl-Bikes
Leitsatz (amtlich)
1. Das Grundbedürfnis eines Versicherten auf Bewegungsfreiheit geht über die durch einen handbetriebenen Rollstuhl ermöglichte Mobilität hinaus.
2. Je nach den Umständen des Einzelfalles hat ein mit einem handbetriebenen Rollstuhl versorgter Versicherter daher außerdem Anspruch auf ein Hilfsmittel - hier: ein Rollstuhl-Bike -, das seinen Bewegungsfreiraum für Entfernungen erweitert, die ein Versicherter auch bei eingeschränktem Gesundheitszustand in der Regel zu Fuß zurückzulegen pflegt.
3. Ist ein Versicherter bereits mit einem Elektrorollstuhl versorgt, so besteht daneben grundsätzlich kein Anspruch auf ein Rollstuhl-Bike.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für einen Rollstuhl-Bike "City plus".
Der 1982 geborene Kläger ist familienversichertes Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Er leidet unter Spina bifida. Er ist mit einem Faltrollstuhl (Sportrollstuhl) versorgt.
Im Juni 1994 stellte er bei der Beklagten den Antrag auf Übernahme der Kosten für ein Rollstuhl-Bike "City plus" unter gleichzeitiger Überreichung der Verordnung des Arztes Dr Ch vom 15. April 1994 und des Kostenvoranschlags der Firma r, L, vom 2. Juni 1994 über DM 4.968,69. Die Beklagte holte das sozialmedizinische Gutachten des Arztes Dr P vom 1. Juli 1994 ein. Mit Bescheid vom 15. September 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 1994 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, daß es sich bei einem Rollstuhl-Bike eindeutig um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele. Ein Fahrrad gehöre zu den Fortbewegungsmitteln, sei jedoch kein Hilfsmittel. Der Kläger sei mit einem Rollstuhl versorgt. Eine Kostenübernahme über das zusätzlich beantragte Rollstuhl-Bike überstiege das Maß des Notwendigen.
Hiergegen hat der Kläger am 27. Januar 1995 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Bei dem Rollstuhl-Bike handele es sich um therapeutisches Hilfsgerät. Die Beklagte hingegen hat ausgeführt. daß der Kläger mit einem Rollstuhl und damit mit einem erforderlichen Hilfsmittel zur Fortbewegung versorgt sei. Ein möglicher therapeutischer Nutzen begründe nicht die begehrte Versorgung. Der Kläger habe Anspruch auf Krankengymnastik im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung. Das Fahren im unwegsamen Gelände und das Zurücklegen längerer Wegstrecken mit höherem Tempo als mit einem normalen Rollstuhl sei eine Gestaltungsform, die über die lebensnotwendigen Grundbedürfnisse hinausgehe. Zum Zwecke der Fortbewegung sei der Kläger ausreichend mit einem Rollstuhl versorgt.
Mit Urteil vom 14. November 1996 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für das Rollstuhl-Bike gemäß Antrag zu übernehmen. Zur Begründung hat das SG im wesentlichen ausgeführt: Das Rollstuhl-Bike sei kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Es werde im Falle des Klägers zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt zur Schaffung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasse. Der Kläger wohne in einem ländlichen Gebiet, so daß ein entsprechendes Grundbedürfnis anzuerkennen sei. Bei dem Kläger handele es sich um einen heranwachsenden Jungen, der sich, soweit wie möglich, an den Unternehmungen von Gleichaltrigen beteiligen möchte. In diesem Alter sei der Bewegungsdrang und die Unternehmungslust besonders hoch. Der Kläger wäre ausgeschlossen von derartigen Freizeitaktivitäten seiner gleichaltrigen Freunde. Bei einem Jungen dieses Alters würden gemeinsame Aktivitäten mit gleichaltrigen Gesunden zu den Grundbedürfnissen gehören.
Gegen dieses ihr am 5. Dezember 1996 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19. Dezember 1996 Berufung vor dem LSG Niedersachsen eingelegt und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Die Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike falle nicht in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Dieses Gerät diene weder der Krankenbehandlung noch sei es notwendig zum Ausgleich einer Behinderung. Zu den Grundbedürfnissen zähle die Fortbewegung schlechthin. Der Kläger sei mit einem Rollstuhl versorgt, so daß ihm zur Befriedigung des Grundbedürfnisses - Fortbewegung - ein Hilfsmittel zur Verfügung stehe. Auch sei er in der Lage, seinen Rollstuhl allein zu bewegen. Die Befriedigung eines je nach Alter und Interessenlage vorhandenen Bewegungsdranges und der Unternehmungslust eines Versicherten gehöre in den Bereich der besonders gestalteten Freizeitaktivitäten und falle in den eigenwirtschaftlichen Bereich des Klägers. Das Rollstuhl-Bike selbst sei zwar kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, erfülle jedoch in dieser behindertengerecht gestalteten Form die Funktion eines Fahrrades und sei somit kein Hilfsmittel, welches der medizinischen Rehabilitation oder der Befriedigung eines elementaren Grundbedürfnisses die...