Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Zweifel an der Hilfebedürftigkeit. einstweiliger Rechtsschutz. keine Begrenzung der Leistungszuerkennung auf 80%
Leitsatz (amtlich)
Hilfebedürftigkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Antragsteller in der Vergangenheit seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, obwohl ihm Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB 2 vorenthalten worden sind.
Orientierungssatz
Mit dem Zusprechen der Regelleistungen nach SGB 2 in voller Höhe im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 86b Abs 2 SGG wird eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den Verfahren des § 86b Abs 1 SGG vermieden.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 06.06.2005 geändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellern für den Monat Juni 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II in Höhe des vollen Regelsatzes zzgl. der Leistungen für Unterkunft und Heizung, längstens für insgesamt 6 Monate, zu bewilligen. Im Übrigen wird die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig.
Die von den Antragstellern abgegebene Stellungnahme, die innerhalb der Beschwerdefrist am 04.07.2005 bei Gericht eingegangen ist, ist als Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 06.06.2005 auszulegen. Den Beschwerden hat das Sozialgericht nicht abgeholfen.
Die Beschwerde der Antragsteller ist begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO - ). Glaubhaftmachung erfordert nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit an Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 29.07.2003 - 2 BvR 311/03, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - NVwZ 2004, 95, 96). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, in die auch die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen sind (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - m.w.N.).
Zur Überzeugung des Senats ist das Vorbringen der Antragsgegnerin nicht geeignet, berechtigte Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller aufkommen zu lassen. Die Antragsgegnerin stützt ihre Auffassung im Wesentlichen darauf, dass gemessen an den Einnahmen und Ausgaben und unter Berücksichtigung eines an den Regelsätzen orientierten Bedarfs seit Oktober 2004 eine monatliche Unterdeckung von ca. 450 Euro besteht. Demgegenüber haben die Antragsteller für den Senat nachvollziehbar - selbst die Antragsgegnerin räumt in ihrem Schriftsatz vom 19.07.2005 ein, dass die Angaben der Antragsteller im Wesentlichen erklärbar seien - dargelegt, dass sie sich beim Kauf von Lebensmitteln eingeschränkt und sich hierfür eine Grenze von 200,00 Euro mtl. gesetzt hätten. Dieses enge Budget wird durch das im Schriftsatz vom 28.07.2005 geschilderte Einkaufsverhalten plausibel. Danach nutzen die Antragsteller das in den Niederlanden günstigere Angebot bei Lebensmitteln sowie beim Fleischkauf preiswerte, durch Bekannte vermittelte Einkaufsmöglichkeiten aus. Anhaltspunkte, dass die Antragsteller aus bisher nicht offenbarten Einkünften ihren Lebensunterhalt bestritten haben, sind nicht erkennbar. Im Hinblick darauf, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen, dürfen Umstände der Vergangenheit, die die Antragsgegnerin hauptsächlich geltend macht, nur insoweit herausgezogen werden, als sie eindeutige Erkenntnisse für die gegenwärtige Lage der Antragsteller zu lassen (so BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05).
Ein Anordnungsgrund besteht nicht nur im Hinblick auf die nach Regelsätzen zu erbringenden Leistungen, sondern auch hinsichtlich der Kosten der Unterkunft. Die Antragsteller sind seit Juni die Miete schuldig geblieben. Folglich besteht die Gefahr, die Wohnung durch Räumungsklage zu verlieren, weil dem Vermieter gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB ein außerordentliches Kündigungsrecht zusteht. Dementsprechen...